Lieber Freund, es kann für mich nur einen Weg geben – die Welt dichtend zu erobern, nur so kann ich es schaffen, sie neu für mich zu erfinden und Dinge, die aus Unverstand oder mangelnder Sensibilität für die herrschenden Umstände, die dennoch ewig wiederkehrend geschehen, auszuschließen und aus meinem Lebensgedicht, das gleichwohl die Prosa des Daseins einschließt, zu verdammen.

Wer sagt den Menschen, wie sie sein sollen? Ob sie stark oder schwach, mutig oder feige, ob sie selbst- oder fremdbestimmt handeln sollten? Wer definiert diese Werte? Sind sie faktisch bestimmbar oder liegen sie allein im Auge des Betrachters? Wer hat ein Recht auf derartige Betrachteranalysen?

Ist nicht Selbstbestimmung auch, wenn sich jemand einem anderen so anvertraut, dass er nur noch von ihm bestimmt werden will und ihm damit Rechte in seinem Leben einräumt, die bei jedem anderen undenkbar, ja geradezu vor Unverschämtheit überschäumend wären?

Was ist Liebe? Wann tut Kriegsbemalung not? Wenn es der Bote ist, der stets für der Erkenntnis Kinder niedergestochen wird, so wird man die Liebe niederstechen müssen – sie ist der Bote des Lebens.

Was ist Abhängigkeit? Ist ihr Tatbestand schon erfüllt, wenn man nach längerer Trennung an nichts anderes mehr denken kann, als an das vertraut-geliebte Antlitz der innigsten Sehnsuchtswünsche? Oder „erst“, wenn das Leben die Sehnsucht aus ihrer Kraftfülle in sein Gegenteil verwandelt und zur primitiven Sucht mutieren lässt? Ausweglosigkeit ist etwas für Schwächlinge!

Oh Gott, lass mich dumm sein! Wo ist sie, meine lebensrettende Unbeschwertheit, die mich bisher vielleicht töricht, aber dennoch nahtlos von Station zu Station hinübergleiten ließ? Warum stelle ich diese Fragen? Erklär mir doch den Ort, an welchem ich nun verweile! Kann Zukunft jemals Thema sein? Der Ort, er ist lust- und leidvoll zugleich, und wenn auch die Lust noch immer die Mächtigere ist, kann sie mir in gewissen Situationen nicht mehr treu sein!

Cover Leipziger Zeitung Nr. 116, VÖ 31.08.2023. Foto LZ

Oh je, ich weiß nichts mehr – ich will zehn Kilo Soma und dem Erdendasein schnell entfliehn! Über alle Träume weit hinaus, Undenkbares zu erreichen – das ist mein Ziel, da alles andere von Realitätsmoralitäten tief verseucht und bereits in diesem Augenblick zum Sterben verurteilt ist.

Ich will von oben auf alles Geschehen souverän schauen, sodass das Feuer meiner unbelehrbaren Leidenschaft mir nimmermehr meine freiheitsliebenden Flügel verbrennen kann und damit nicht der einzige Pfad der Rettung, der Verzweiflung Tränen ist, die es allein zu löschen vermögen, denn ich habe keine Ahnung, wann die Schmerzgrenze wirklich erreicht ist, wann der Kloß in meinem Hals mich zum Ersticken treibt.

Oh, ihr längst noch nicht verblichenen Geister und Genies aus alter Zeit, die ihr wirklicher als wir Heutigen zu sein scheint: Goethe – hilf! Du schaust mich so verstehend an, was weißt Du, das mich zum Jammerlappen stempelt? Warst Du zu Deinen Lebzeiten bereits so weise, wie Du jetzt an mich schaust? Hast Du jemals wirklich geliebt? Was weiß ich schon von Deiner Liebe und Du von meiner?

Kann diese Gefühlsflut wirklich unter diesem einen Begriff subsumiert werden? Oder wühle ich in eigentlicher Sprachlosigkeit, die sich einen Spaß aus meiner Unkenntnis macht? Ist mein Schreien nicht erfüllt von lächerlich kindlichem Trotz? Sag mir bitte, dass es nur ein noch zu überwindender Mangel an Vernunft, dass es meine Jugend ist!

Sag mir bei Deinen unsterblichen Schriften, die Deiner Existenz entblühten, was es genau ist, das mich toll und von Sehnsucht weggerissen macht! Erklär mir meine Existenz, erklär mir die Zusammenhänge, erklär mir das Leid und die Hoffnung! Ich kann sonst für nichts mehr garantieren. Hab ich Vernunft? Hab ich Verstand? Ist nicht alles auch gleichermaßen sein Gegenteil? Wie soll ich dies jemals vereinen? Wer lehrt mich verstehen? Wann darf ich weinen und wann heilt mein Lachen der Wunden Tiefe? Wann darf ich besinnungslos sein, wann darf ich träumen – (un)endlich träumen?

www.empraxis.net

„Interview: Ãœber die Arbeit der Initiative ‚Psychotherapie? Mangelware!‘“erschien erstmals im am 31.08.2023 fertiggestellten ePaper LZ 116 der LEIPZIGER ZEITUNG.

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