Auch Flucht und Vertreibung haben etwas mit unserer Wahrnehmung zu tun. Deswegen ist der Begriff Heimat so gefühlsbeladen. Er bedeutet deutlich mehr als nur den Ort, an dem sich jemand zu Hause fühlt. Eine gute Gelegenheit für den Gehirnforscher Gerald Hüther, zur Buchmesse nach Leipzig zu kommen. Zumindest virtuell – in einer Black Box in der Osthalle des Hauptbahnhofs.

Heimat hat auch etwas mit Identität zu tun. Aber nicht so, wie es die Rechtsextremen und Identitären verstehen. Dazu ist der Begriff viel zu vielschichtig. Er ist ein ganzer Kosmos von Identifikationen, die für den Einzelnen ein Kosmos werden, in dem er kulturell genauso zu Hause ist wie mental, sprachlich genauso wie intellektuell …

Autsch, da hab ich aber ein Wort verwendet.

Wer redet von Intellekt, wenn Meinungen und blanke Gefühle die Stimmung aufschaukeln?

Gerald Hüther natürlich. Als Forscher weiß er, wie sich unser Ich in einem spannenden Lernprozess schon ab dem Mutterbauch entwickelt, sich selbst ausformt und dabei auch seine Ich-Beziehungen zur Umwelt als Geborgensein und Heimat begreift.

Bild aus dem Interview mit Gerald Hüther. Foto: Ute Puder
Bild aus dem Interview mit Gerald Hüther. Foto: Ute Puder

Nur: Auch und gerade die Deutschen haben sich selbst nie wirklich mit dem Thema Flucht ernsthaft beschäftigt, obwohl es kaum eine Familie gibt, die nicht generationenübergreifende Traumata in sich trägt, einfach zugekippt mit den Schwarz-Weiß-Malereien der Nachkriegszeit: Im einen Landesteil war das Reden über Heimatverlust regelrecht tabu, im anderen wurde das Vertriebensein politisch aufgeladen und wie eine ideologische Waffe genutzt.

Auch damit beschäftigt sich die Schwarze Box, die zur Buchmesse vom 21. bis 24. März in der Osthalle des Hauptbahnhofs steht.

Einhergehend mit den Fluchtbewegungen der letzten Jahre wurden bei vielen Menschen tieferliegende Gefühle der Ohnmacht und Angst, aber auch Aggression, Wut und Fremdheit ausgelöst. In fast jeder deutschen Familie sind angesichts von Flucht und Vertreibung nach 1945 oder Flucht aus der DDR zum Teil generationsübergreifende Traumata spürbar.

Blackbox – ein von den Künstlern Ute Puder und Marcus Nebe in Kooperation mit Lauter Leise e.V. initiiertes Projekt – zeigt Wege, die eigenen und die Erfahrungen anderer besser zu verstehen, das Herz für sich selbst und andere zu weiten und miteinander ins Gespräch zu kommen. Blackbox wird für vier Tage zum spielerischen Proberaum der Selbsterkenntnis, des Lesens und Kennenlernens. Der Veranstaltungsort Leipziger Hauptbahnhof wurde bewusst gewählt. Er steht synonym für Ankommen und Wegfahren, Fliehen, Wiederkommen und letzte Abschiede.

Sayed Bahaduri, Sequenz aus dem Film "Woher komme ich. Wohin gehe ich". Foto: Ute Puder
Sayed Bahaduri, Sequenz aus dem Film „Woher komme ich. Wohin gehe ich.“ Foto: Ute Puder

Black Box „Woher komme ich. Wohin gehe ich. Dialog der Generationen“ thematisiert Kinderschicksale in Kriegs- und Nachkriegszeit, zeigt einen Dokumentarfilm, bietet Gespräche, Tagebuchlesungen und literarische Lesungen. Entstanden ist das Projekt mit Unterstützung des Stadtmuseums Pirna.

Das Programm:

Eröffnung der Black Box am Donnerstag, 21. März, um 19 Uhr in der Osthalle des Hauptbahnhofs mit dem Ensemble Klänge der Hoffnung aus Leipzig. Gezeigt wird der Dokumentarfilm: „Woher komme ich. Wohin gehe ich.“ von Ute Puder (Regie) und Marcus Nebe (Kamera, Schnitt, Ton). Aus fünf Perspektiven wird von Heimatverlust und Heimatfinden erzählt.

Dazu gibt es eine Podiumsdiskussion mit Astrid von Friesen (Psychotherapeutin), Katrin Purtak (Stadtmuseum Pirna), Bosiljka Schedlich (Stiftung Überbrücken), Ute Puder (Projektinitiatorin). Moderation: Tina Pruschmann (Lauter Leise e.V.)

Freitag, 22.März

16 Uhr Tagebuchlesung: „Man kann sich selbst verzeihen“. Ursula Waage, Fahd Aldaya und Uwe Dietze lesen persönliche Aufzeichnungen und Erinnerungen zu Krieg und Flucht aus Schlesien und Syrien.

19 Uhr Lesung: „Autobus Ultima Speranza“ – Die Österreicherin Verena Mermer liest aus ihrem 2018 im Residenz Verlag erschienenen Roman von Arbeitsmigranten, die als Erntehelfer oder Pflegerin quer durch Europa pendeln und für die Entfernung auch Entfremdung bedeutet. Moderation: Tina Pruschmann (Lauter Leise e.V.)

Samstag, 23. März

14 Uhr Tagebuchlesung: „Man kann sich selbst verzeihen“. Samuel Seifert und Tina Pruschmann lesen persönliche Aufzeichnungen und Erinnerungen an das Fliehen aus Schlesien und das Ankommen nach der Flucht.

16 Uhr Tagebuchlesung: „Man kann sich selbst verzeihen“. Ute Puder, Dorit Bieber und Urte Grauwinkel lesen persönliche Aufzeichnungen und Erinnerungen an das Fliehen aus Schlesien, Syrien und Ostpreußen und das Ankommen nach der Flucht.

19 Uhr Lesung: „Das Erbe der Kriegsenkel“. Matthias Lohre liest aus seinem Buch, erschienen 2016 im Gütersloher Verlagshaus, über Belastungen, die Kriegsenkel tragen müssen. Für ihn ist die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eines der größten Erben des Zweiten Weltkrieges. Moderation: Tina Pruschmann (Lauter Leise e.V.)

Sonntag, 24. März

12 Uhr Lesung: „Kleines–Land“. Marie-Pierre Liebenberg vom Institut français Leipzig liest aus dem Roman von Gaël Faye. Er erzählt von seiner Heimat Burundi, seinem neuen Leben in Paris und dem Traum von der Rückkehr. Aus dem Französischen von Brigitte Große und Andrea Alvermann.

14 Uhr: In Kooperation mit dem Stadtmuseum Pirna: Videoporträt „Nichts, bleibt wie es ist“. Der Pirnaer Hugo Jensch erlebte als Kind das Łódzer Ghetto und sah das Verschwinden der Nachbarn. Für ihn wurde das Gesehene zum Motiv, sich sein Leben lang gegen Rechtsextremismus zu engagieren.

Lesung „… und sie hat sich nicht gewehrt“ – Literarisch verarbeitet hält Lutz Merseburger die Erinnerung an die jüdische Vormieterin seiner Wohnung in der Waldstraße 66 in Leipzig wach.

Diskussion und Projektpräsentation „Dialog der Generationen – Kinderschicksale in Kriegs- und Nachkriegszeit“ mit Katrin Purtak, Stadtmuseum Pirna. Moderation: Ute Puder

Geöffnet ist die Black Box jeweils 10-20 Uhr. Der Dokumentarfilm, ein Interview mit dem Hirnforscher Gerald Hüther läuft täglich in der Blackbox.

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