Es war einmal ein Deutschland, das steht heute so friedlich und bieder im Glasbuffett, dass man sich fragt: Gab’s das wirklich? Vor 200 Jahren ging der rebellische Geist der Deutschen auf Tauchgang und flüchtete sich in eine Kultur, die man heute mal als Biedermeier, mal als Romantik bezeichnet. Wo große Gefühle ein Fall für die Zensoren waren, lebten die kleinen Gefühle auf. In wunderbarer Zerbrechlichkeit.

In der Literatur genauso wie in der Malerei, der Mode wie der Musik. Nein, nicht Beethoven bestimmte den Ton. Beethovens gewaltige Schicksalsschläge waren mit der Niederlage von Napoleon bei Waterloo verstummt. Seitdem schnurrten die Kätzchen und bestimmten Polizeikommissare, was Kunst war und was „Demagogie, Volksverhetzung und Hochverrat“. Es regierten die Karlsbader Beschlüsse und für 30 Jahre war beschauliche Ruhe im Land. Der Bürger gab sich bieder. Und sang so seine Lieder. Das frühe 19. Jahrhundert ist das Zeitalter der romantischen Lieder. Hier entstanden die hübschen Wander-Mühlen-und-Forellen-Lieder. Die Salons blühten auf. Die Biedermeier-Salons, die nichts mehr mit den kritischen Salons einer Rahel Varnhagen oder einer Henriette Herz zu tun hatten.

Man pflegte Geselligkeit, blendete die restaurierte Gesellschaft aus und vertiefte sich in innige Gefühle. Da gab es auch was zu entdecken. Die Liederkränze blühten, Eichendorff und Mörike hießen die Dichter, die gefeiert wurden und bis heute die Poesiealben füllen. Und keiner gab der Zeit den so typischen Klang wie Franz Schubert, bei dessen Kompositionen man schon mit den ersten Tönen die ganze hübsche Bürgerlichkeit dieser beschaulichen Zeit vor sich hat, die am Ende von Eisenbahnqualm und Revolution beendet wurde.

Wenn sich fünf begnadete Sänger wie die von Amarcord daranmachen, aus über 100 Vokalstücken von Franz Schubert 17 auswählen und – zumeist in a-cappella-Version – einsingen, dann entsteht der Geist dieser Zeit wieder vorm inneren Auge. Einer Zeit, die das Abtauchen in Geistergeschichten, Burgen- und Wanderromantik, naive Liebe, Verzückung und Traum als Fantasie feierte, als Eroberung eines Reiches der Freiheit, das ganz im Privaten existierte – und selbst noch in den dicken Romanen der Raabe, Storm und Keller seine Satzblüten trieb. Als wären die verniedlichten Helden der Grimmschen Märchen, die erstmals 1812 erschienen, in die reale Welt gesprungen und hätten Wandersburschen und Gänsejungen in verzauberte Prinzen verwandelt und die angebeteten Mädchen in lauter Prinzessinnen.

Es war die Zeit, in der sich das deutsche Bürgertum zum ersten Mal so etwas wie eine Kultur erschuf, sich Tieck, Fouqué und Brentano ins Regal stellte und mit einem katholischen Kostümwechsel liebäugelte, weil man auch Mittelalter und Glauben jetzt mit Innigkeit assoziierte.

Logisch, dass das alles auch wieder in den Gedichten auftaucht, die Franz Schubert in dieser Zeit vor allem für kleine Männerquartette vertonte. Auf geniale Weise. Manches davon sofort wieder präsent im Ohr, weil man dieses Schillersche „Unendliche Freude“ schon so oft gehört oder gelesen hat, genauso wie Goethes „Gesang der Geister über den Wassern“. Ach ja, unsere Klassiker. Wenn sie überschwänglich wurden, wurden sie zu sprudelnden Romantikern. Und schimpften dann (zumindest Goethe tat das) auf die Romantiker. Aber was ist Goethes „Nur wer die Sehnsucht kennt“ anderes, als pure Romantik?

Klar, Mondenschein, rieselnde Bächlein, Geistertanz und Gondelfahrt – es ist alles da. Wenn man dann liest, wie zufällig Schuberts Textauswahl oft war, wie viel Übermut seine Sangesbrüder verübten und den genialen Komponisten damit zu etlichen kleinen Wundern des Schnellkomponierens anspornten, dann wird deutlicher, wie sehr für Schubert gerade diese romantischen Verspieltheiten selbst ein Spiel waren. Man darf sich durchaus auch Spitzweg vorstellen als Maler dieser Bilder. Denn Schubert malt. Vielstimmig, farbenfroh, ineinander verwoben. Wer diese Stücke singt, der muss ein begabter Sänger sein. Da entsteht ein Wispern und Rauschen, wird das Lied zum Sing-Spiel, stets mit Augenzwinkern zum Publikum. Denn wenn die singenden Herren sich vor kleinem Publikum inszenierten, dann war das ein kleines Schau- und Hörspiel, dann wurde die Phantasie angeregt.

Und das gelingt noch immer, auch wenn man das Meiste heute reineweg putzig findet, weil es wie Verkleidung wirkt. Wie eine augenzwinkernde Kostümierung. Das ist ganz großes, närrisches Gefühl im kleinen Rahmen – auch wenn die Schubertschen Quartette später sogar vor 120-köpfigem Publikum vorgetragen wurden. Das bezaubert war, entzückt. Enthusiasmiert, wie das damals auch gern genannt wurde.

Wenn das alles nun 200 Jahre später gesungen wird, steht natürlich die Kunst der Sänger viel stärker im Mittelpunkt, konzentriert man sich viel stärker auf Schuberts ineinander spielende Klangteppiche. Da müssen auch Könner ihres Fachs zu großer Brillanz auflaufen, wenn das da vor aller Ohren aufblühen, wogen, schmeicheln, sehnen soll. Die Romantik ist eine ganze Schatzkiste ins Private verbannter Gefühle. Ewig rennen sie an gegen die Grenzen ihrer Sehnsucht. Logisch, dass ein Land in Wehmut und Trauer landet, wenn es seine Leidenschaften nicht wirklich ausleben darf. Das traute sich – ansatzweise – ja erst der Eichendorffsche „Taugenichts“.

Seit diesem Franz Schubert ist der wehmütige Moll-Ton in der deutschen Musik, rast ab und zu das Herz, weil es gar nicht mehr weiß, wohin mit all den Gefühlen – und man merkt, dass der Klavierspieler dabei nicht nur der nette Begleiter ist, sondern auch der Störenfried, der die beschauliche Freude ganz absichtlich übertönt. Nicht lange. Denn diese Sänger sind brav. Brüderlichkeit, die einst bei Schiller noch der ganzen Welt galt, hat sich auf die Sanges- und Trinkbrüderschaft reduziert. Zwei sehr hübsche Trinklieder sind natürlich dabei, die genau das hörbar machen: Wie sich die Herren im braven Frack immer wieder ihrer eigenen Geselligkeit und ihres Vertrauens versichern. Was man ja nur macht, wenn inwendig der Zweifel nagt. Oder außenwendig Eric Schneider am Klavier etwas heftiger in die Tasten geht.

Wer sich beim Anblick silberglänzender Landschaften erst in Verzückung retten muss, um diese Schönheit wahrnehmen zu können, der hat schon ein angeknackstes Verhältnis zur idealisierten Natur. Zu seinen Gefühlen erst recht. Man ahnt, warum diese Lieder ihr Publikum in Bann schlugen, warum es sich an diesem Schmachten und Sehnen begeisterte. Denn es ging schon längst über das hinaus, was man sich selbst erlaubte. Diese ganz spezielle deutsche Romantik war auch die Artikulation einer Sehnsucht, die sich das deutsche kleine Bürgertum nie wieder eingestehen würde. Einer Sehnsucht nach Leidenschaft, die Schubert immer wieder genial, verspielt, mit fröhlichem Schabernack in Töne gesetzt hat. Die ganzen Gedichte, die er dabei in Noten übersetze, waren nur Schablonen, eine Arbeitsgrundlage, auf die er ein ganzes widerstreitendes Singspiel der widersprüchlichen Emotionen setzte, die sich erst in diesem – mal wehmütigem, mal übermütigen – Widerstreit zur Harmonie finden. Wenn man richtig zuhört, dann merkt man: Der Mann wusste um den ewigen Streit der Gefühle, die eigentlich eine Romantisierung der Wirklichkeit verhindern.

Den Widerspruch haben die deutschen Innigkeits-Dichter bis heute nicht aufgelöst.

Aber das ist auch egal, weil es nichts mit dieser geradezu freudigen Einspielung der Schubert-Lieder zu tun hat, die Amarcord gewagt hat. Franz Schubert hätte diese Leichtigkeit wahrscheinlich sehr gefallen. Gerade weil er sich mit dieser Kunstform immer wieder beschäftigt hat. Später wurden diese Lieder oft genug von großen Chören gesungen. Was eigentlich nicht ginge, stellt der Begleittext im Booklet fest. Ihren wirklichen Charme entfalten sie erst in der kleinen Gesangsgruppe, die bei Schubert fast immer von Männern besetzt ist. Das „Ständchen“ (gleich die Nr. 1 auf der CD) freilich schrieb er dann auf berechtigten weiblichen Wunsch auch für Frauenstimmen um. Was auch daran erinnert, dass es in damaligen Bürgerstuben keine Radios und Fernseher gab. Dafür stand zumeist ein Klavier da und man betätigte sich selbst emsig konzertant. Und dazu gehörte so einiges, wenn man diese Schubertschen Lieder nimmt. Einiges an Übung und Können – aber auch einiges an Freude. Denn wenn damals ähnlich ambitioniert gesungen wurde, wie es Amarcord hier tut, dann waren diese Musikabende mit Emotion aufgeladene Erlebnisse, wie sie der moderne Zu-Hörer kaum noch kennt.

Langweilig war die Schubert-Zeit ganz bestimmt nicht.

Die CD ist seit dem 11. November im Handel.

Wo kann man Amarcord und Eric Schneider nun auch mal selbst mit den Liedern aus Schuberts Schatzkiste erleben?

Am 20. November ist amarcord mit zwei Konzerten am großen „Schubert-Marathon“ des Konzerthauses Berlin beteiligt. Zu erleben sind die ehemaligen fünf Thomaner dort in einem ca. 45-minütigen Konzert mit Eric Schneider sowie in einem „Dunkelkonzert“ gemeinsam mit german hornsound (u.a. mit dem „Nachtgesang im Walde“ von der CD „Wald.Horn.Lied“, VÖ: 2016, Geniun).

Ansonsten hat Amarcord immer wieder Schubert-Lieder im Programm.

Die nächsten Amarcord-Auftritte in Leipzig:

  1. November, 19:30 Uhr in der Paul-Gerhardt-Kirche beim Klassischen Kartoffel-Konzert des NuKla e.V.
  2. Dezember, 19:30 Uhr, in der Thomaskirche im Weihnachtsprogramm mit der Lautten Compagney Berlin

amarcord und Eric Schneider „Schubert“, RK ap 101146 – Raumklang – edition apollon, EAN: 4039731101164, LC 10940, Total: 66:54 min

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