Fünf Wochen Ruhe. Fünf Wochen keine neue Kantatenmusik für die Leipziger Kirchen. Für den seit einem Jahr amtierenden Thomaskantor Johann Sebastian Bach müssen die Fastenwochen wie ein Geschenk gewesen sein. Endlich hatte er Zeit, etwas richtig Großes für seine Kirche zu komponieren und eine Tradition aufzunehmen, die eigentlich noch keine war: die Tradition der Leipziger Passionsmusiken. Am 7. April 1724 sollte sie erstmals in der Thomaskirche erklingen: die Johannes-Passion. Doch dann gab’s Ärger.

Denn in Leipzig war alles geregelt. Bis hin zum jährlichen Wechsel der Passionsmusiken zwischen den beiden Stadtkirchen. Und 1724 war wieder die Nikolaikirche dran. Bach hatte schon die Ankündigungszettel drucken lassen. Der Magistrat grollte. Bach musste neu drucken lassen. Und die Johannes-Passion erklang dann „planmäßig“ am Karfreitag 1724 in der Nikolaikirche.

Vier überlieferte Fassungen gibt es von der Johannes-Passion. Schon die nächste Aufführung 1725 dann in der Thomaskirche war gegenüber der Erstfassung verändert. Und ein Problem der Überlieferung ist natürlich, dass für die Erstaufführung nur einige Stimmen überliefert sind, sodass man nicht wirklich sagen kann, in welcher Besetzung damals in der Urfassung in der Nikolaikirche gespielt und gesungen wurde.

Das ist durchaus ein Knackpunkt in diesem Projekt, das sich Thomaskantor Andreas Reize hier vorgenommen hat, indem er die Johannes-Passion mit seinen Thomanern in der Erstfassung einspielen wollte. Ein nur zu nachvollziehbarer Wunsch im Leipziger Bachjahr 2023, denn 1723 war der vormalige Köthener Hofkapellmeister ja erst nach Leipzig gekommen und hatte sich sofort in seine ambitionierten Kompositionen für die Kirchemmusik gestürzt. Die Johannes-Passion gehört als krönender Abschluss noch in dieses erste Jahr.

Die verführerische Stimme des Volkes

Aber wie klang sie? Wie nahmen es die Leipzigerinnen und Leipziger auf, die am 7. April 1724 in der Nikolaikirche saßen? Oder standen? Vielleicht sogar dicht gedrängt?

Wir kennen ja zumeist nur die ärgerlichen Auseinandersetzungen des Thomaskantors mit der Obrigkeit, nicht die Reaktionen der Menschen, die diese Musik das erste Mal erlebten. Waren sie still? Hörten sie zu? Ließen sie sich von der Geschichte mitreißen, die ja nun einmal die Passionsgeschichte aus dem Johannes-Evangelium ist – mit all ihrer Dramatik von der Nacht des Verrats und den Zweifeln Jesu, während seine Jünger schlafen, über die Verhöre vor dem Hohepriester und bei Pilatus bis zur Verspottung, der Dornenkrönung und der Kreuzigung?

Wenn sie still waren und lauschten, dürften viele der damals Anwesenden erschüttert gewesen sein. Vielleicht sogar betroffen. Die Johannes-Passion ist kein Werk, das sich einfach weghört. Sie lebt von ihren geradezu mitreißenden Wechseln zwischen den Rezitativen, die die Handlung vorantreiben, den furiosen Chören, in denen das Volk zu Wort kommt, und den glasklaren Arien, die auch auf dieser Aufnahme von glockenhellen Thomanerstimmen dargeboten werden.

Und sie lebt auch davon, dass es den Teufel nicht gibt, um es einmal so zuzuspitzen. Denn wer die Stimme des Volkes aus der Bibel kennt, weiß, dass es hier Ankläger ist, dass es sein Opfer haben will und die Kreuzigung fast wie ein Schauspiel bejubelt. Und das Volk sind – wir. Wir können gar nicht anders, so leicht, so tänzerisch sind diese Passagen, die allesamt der Knabenchor singt. Bach wusste sehr genau, dass das Volk sogar noch singt und jubelt, wenn es nach Golgatha geht.

Die Trauer und das Wissen darum, was da gerade geschieht und wie ein Unschuldiger da bestraft wird, das wissen nur die Wenigen, die mit Jesus sind. Oder sich verstecken. Oder ihn gar verraten.

Nur ja keine Oper!

Im Booklet verweist Thomas Leiniger extra auf die italienischen Einflüsse, die in diesem Passions-Werk hörbar werden. Die ein Wesentliches dazu beitragen, dass sich selbst die beklemmendsten Passagen so unerhört leicht und liedhaft anhören. Das muss den Leipzigern 1724 durchaus noch neu, fremd und übermütig geklungen haben. Und: Es steht eigentlich fortwährend im Konflikt mit dem Text. Das fällt auf. Ein – aus vielen Quellen stammender –Text, der durchdrungen ist vom Pietismus dieser Zeit, dieser Art des Glaubens, die alles zu Herzen nahm, sich versuchte regelrecht einzufühlen in Leiden und Sterben Christi.

Und dann diese wie hingetupft und filigran dazu komponierte Musik, die immerfort signalisiert: Das Leben geht weiter, wir feiern. Als dürfte das Schreckliche, das sich da vor aller Augen abspielt, nicht wahrgenommen werden. Was den Zuhörer in eine geradezu zwiespältige Lage versetzt – zwischen Jubel und Weinen. Und eigentlich wäre das wahrscheinlich gar nicht so falsch, sich gerade die Leipzigerinnen vorzustellen, wie sie da – sie kennen ja den Gang der Ereignisse – ihre Taschentücher herausholen.

Spätestens bei der Sopran-Arie, die auf dieser Aufnahme der Thomaner Leopold Görsch singt: „Es ist vollbracht!“

Spätestens da spürt man, warum dieser Knabenchor die Leipziger immer begeistert hat, egal, wie die Zeiten waren. Und warum Bach so um gute Stimmen für diesen Chor kämpfte und verzweifelte, weil es die Herren im Magistrat nicht verstanden. Nicht verstehen wollten. Wer eine Stadt verwaltet, muss nicht unbedingt wissen, wie gute Musik gemacht wird.

Wahrscheinlich sitzt der auch anders in der Kirche und achtet eher darauf, dass sich der Kantor dort bitteschön an das aufgestellte Regelwerk hält. Italieninsche Opernmusik ist unerwünscht.

Kreuziget ihn!

Und so ist gut vorstellbar, dass die grimmigen Herren unter ihren Perücken nicht richtig hinhörten. Auch den Zwiespalt nicht hörten, den Bach hier komponiert hatte, der sich sehr gut in der lutherischen Position einzufühlen wusste, dass alle Menschen Sünder sind. Und dass sie meistens mit dem Chor singen und nur zu leicht einstimmen in das „Kreuziget ihn!“

Kommt einem das nicht bekannt vor? Bekannt aus allen asozialen Netzwerken? Dieses Mitempörtsein, diese Lust am Erniedrigen und Strafenwollen? Als wären keine 300 Jahre vergangen. Als hätten wir alle nichts daraus gelernt. Auch nicht von Bach, der mit solchen Werken sein Innerstes nach außen kehrte und sich damit auch angreifbar machte.

Denn Pietismus hatte damals immer zwei Spielarten: die derjenigen, die sich tief hineinfühlten in den Glauben und das Mitleiden. Und die, die mit dogmatischer Strenge wachten und straften.

Wir sind der Chor. Das ist das Erschütternde. Und wir können uns an einem Tag völlig drehen wie die Fähnchen im Wind. Bach wusste das sehr wohl. Am Ende singt auch sein Chor: „O hilf, Christe, Gottes Sohn, / durch dein bitter Leiden / Dass wir dir stets untertan / All Untugend meiden.“ Das sind zwar die Worte von Michael Weiße von 1531, aber sie zeigen Bachs Verständnis vom Glauben.

Und sie wirken ganz anders nach dieser eindringlichen Passagen nach Jesu Tod und dem silberhellen „Es ist vollbracht“. Das Schlimmste ist geschehen.

Was bleibt, ist die Zuversicht, das feste Vertrauen – oder wohl besser: Hoffen – darauf, dass es letztlich ein versöhnliches Ende für jeden von uns gibt. Auch für die, die immer mitgesungen haben.

Vielleicht genau so

Aber vielleicht ist das ja auch nur das, was einem selbst passiert, wenn man dieser mitreißenden Passion zuhört und merkt, dass eben doch mehr drinsteckt als nur die vertonte Jesus-Geschichte aus dem Johannes-Evangelium. Wahrscheinlich der ganze noch junge und zuversichtliche Bach, der seine tiefe Gläubigkeit immer auch in die Musik einfließen ließ.

Und zwar eine Gläubigkeit aus Betroffenheit – was man heute kaum noch kennt, wissend um die eigene Fehlbarkeit. Und darum, dass man dabei nicht besser ist als all die anderen Menschen und die Stillen oder Schwatzenden, Stolzen oder Ratlosen im Publikum.

Man ist mittendrin mit ihm in den Ereignissen. Auch heute noch, wo wir so schrecklich rational geworden sind. Oder zu blanken Musikgenießern, die bei Bach diese geniale Umsetzung würdigen, während wir kaum einen Sinn haben dafür, dass er eigentlich immer von sich erzählt, von Gefühlen, die wir alle haben, aber selten zugeben. Denn dadurch sind wir verletzlich.

Eigentlich kann man das hören in diesem Versuch, die allererste Fassung der Johannes-Passion zum Klingen zu bringen. Vielleicht klang das 1724 ganz anders. Und trotzdem für die Damaligen ganz genauso. Vielleicht hat es die Leipziger auch überwältigt, weil es zu neu war und in diesem Sinne unerhört.

Aber gerade deshalb ist das, was der Thomanerchor und die Akademie für alte Musik Berlin im Mai 2023 in der Thomaskirche eingespielt haben, ein durchaus ernst zu nehmender Versuch, die Frühfassung dieser Passion erlebbar zu machen im Zusammenspiel der vier professionellen Sängerstimmen (Roberto Pohlers, Tobias Berndt, David Fischer und Daniel Ochoa) und der hellen Stimme des Knabenchores.

Johann Sebastian Bach „Johannes-Passion. BWV 245.1. Erste Fassung“, Thomanerchor Leipzig, Akademie für Alte Musik Berlin, Thomaskantor Andreas Reize, Rondeau Production, Leipzig 2024, CD ROP405455.

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Danke, lieber Autor, da haben Sie weit ausgeholt und das Werk ausführlich erläutert. So daß Sie sich dann mit ihrem eigenen Eindruck der Einspielung doch eher knapp halten. Wenig überschwänglich war die Rezension von Peter Korfmacher, die Sie dieser Tage in der LVZ gelesen haben werden, dem ging das manische prä-, post- und interludieren auf den Geist, zurecht. Richtiggehend ein Verriß kam dieser Tage (noch am Kiosk zu haben) in “DIE ZEIT”: https://www.zeit.de/2024/14/leipziger-thomanerchor-johannespassion-johann-sebastian-bach Titel: “Bach auf Speed”, und der Hinweis in der Unterüberschrift, daß die Einspielung im Desaster endet, erscheint mir bei großem eigenem Bedauern nachvollziehbar, und sehr wahrscheinlich zutreffend (die von Ihnen am Rande hervorgehobene “Zerfließe”-Arie, die ein Knabe singt, wird als fast einziger Lichtblick in “DIE ZEIT” ebenfalls gewürdigt). Man fragt sich nur, für wen der 18. nach Bach, Andreas Reize, so und nicht anders agiert. Für das Werk als solches eher nicht, für das Ensemble, dem er vorsteht, auch nicht. Für sich?

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