Selbst die ignorantesten Theaterverächter kamen dieser Tage nicht umhin, den Protest gegen das dreitägige Schauspiel, welches den Abschied des Centraltheater-Intendanten Sebastian Hartmann plangemäß zum Skandal stilisierte, zur Kenntnis zu nehmen. Die Proteststimmung im Internet brodelte, das angekündigte Blutbad des Wiener Aktionisten Nitsch polarisierte. Doch das Provokanteste an der Aufführung am vergangenen Samstag war ihre antiklimaktische Langeweile.

Während die vor dem Centraltheater versammelten DemonstrantInnen willig die ihnen zugedachte Rolle einnahmen, hysterisch protestierten und der Nitsch-Aktion dadurch Würze verliehen, breitete sich im Inneren dank Überfüllung, schlechter Sicht und langatmiger Inszenierung (trotz effizienter Choreographie) das Gegenteil des beabsichtigten dionysischen Rausches aus. Hätten nicht gelegentlich ein paar Störer und Störerinnen mit Trillerpfeifen oder Zwischenrufen Akzente gesetzt, hätte man meinen können, sich in einem Workshop für Do-It-Yourself-Splatterfilmer zu befinden. Inklusive Rote-Beete-Saft statt Blut und darin getränkter Stofffetzen statt rausgerupfter Eingeweide. Peter Jackson hätte an dem konfusen Getümmel wahrscheinlich seine helle Freude gehabt, dasselbe aber weitaus unterhaltsamer umgesetzt.

Freilich, die Intention der Dramaturgie war in Grundzügen erkennbar: Den Zyklus von Leben und Tod sowie die Materialität des (vergänglichen) Fleisches in seiner unmittelbaren Lustbarkeit durch intensive Bilder und Klang auf proto-bewusster Ebene darzustellen. Und somit die historische Dimension der Entwicklung des Theaters aus vorgeschichtlichen Kulthandlungen wiederauferstehen zu lassen – na klar. Die Ambivalenz aus Voyeurismus, Ekel und Faszination seitens des Publikums – geschenkt. Trotz viel nackter Haut (sowohl von Darstellern wie Tieren) und jeder Menge Kunstblut wollte sich die grenzüberschreitende und bewusst blasphemische Ekstase, für welche die Wiener Aktionisten zu Recht berühmt-berüchtigt wurden, nicht einstellen.
Die Protestler haben hingegen geschafft, was dem greisen Hermann Nitsch nicht mehr so recht von der Hand gehen wollte: eine eindrucksvolle Demonstration dessen abzuliefern, wie wenig es bedarf, um aus einer Menge wohlmeinender Weltbesserer eine blutrünstige Meute zu machen. Die im Internet auch nicht davor zurückschreckte, neben anderen Drohungen Nitschs Ausweidung zu fordern, alles für den Tierschutz natürlich. Wo Nitschs redundante Illustration der zeremoniellen Aspekte antiker Jagd- und Kultgemeinschaften sich angesichts moderner Beschränkungen durch Hygienegesetze und Schlachthausverordnungen zwangsläufig selbst kastrieren musste, gaben die Demonstranten kein Pardon: hinter der wilden Mixtur aus Desinformiertheit, Unverständnis und ethisch begründeter Aufgebrachtheit zeigte sich die ungeschönte Fratze der selbstgefälligen und selbst verliehenen moralischen Überlegenheit. Jene die sich selbst das Recht anmaßt, nach Verboten und Bestrafung all dessen zu schreien, was sich dem eigenen Verständnis zu verweigern scheint.

Dass sich die Demonstration daher als ironischer Höhepunkt des Orgien Mysterien Theaters (OMT) lesen lässt, sagt einiges über das allseitige Scheitern an den eigenen Ansprüchen aus. Insofern lieferten die Proteste unfreiwillig jede vielleicht ausstehende Legitimation der Aufführung, indem sie unmissverständlich verdeutlichten, wo die Tabu-Grenzen tatsächlich und immer noch verlaufen: In der künstlerischen Sichtbarmachung jener Vorgänge, die uns die Schlachthäuser und Massentierhaltungsfarmen vorenthalten. Denn demonstriert wurde eben nicht etwa gegen die Tatsache, dass täglich tausende Tonnen Tierfleisch unter unsäglichen Bedingungen den Weg in die plastikverpackte Warenwelt der Supermärkte finden und von da aus auf die Teller und Grillroste der Nation. Sondern gegen die Zurschaustellung der Körper, die als Quelle von Konsumgütern dienen. Sobald sich aber die Kunst zumisst, diese als Requisiten zu verwenden, ist das ökologisch und ideologisch korrekte Bildungsbürgertum im Nu aus dem Häuschen. Denn das Tier auf den Tellern ist wohl ein anderes als das auf der Bühne.
Nicht, dass es das gewesen wäre, was Nitsch zeigen oder bewirken wollte, denn die durchaus liebevolle Gleichstellung der Körper sowohl der Tiere als auch der Teilnehmer während der Show bezeugten die fleischliche Identität beider vor dem Spiegel ihrer Sterblichkeit. Skandalös ist eben nicht, dass das tägliche Sterben von Lebewesen für die menschliche Überflussgesellschaft eine Tatsache ist – denn sonst nähmen die Demonstrationen vor Restaurants, Supermärkten und Metzgereien kein Ende. Skandalös ist, wenn Tiere nicht zum Verzehr, sondern zu künstlerischen Zwecken Verwendung finden. Unter dem Druck dieser Doppelmoral brach denn auch die eingangs genannte zivilisatorische Patina nicht innerhalb des Centraltheaters zusammen, sondern davor. Nicht zuletzt dann, wenn eifrige Demonstranten reklamierten, dass “es so etwas zu Ostzeiten nicht gegeben hätte” oder Forderungen laut wurden, es müsse doch verboten und verhindert werden, was als “pervers”, “abartig”, “krank” oder dergleichen betrachtet wurde.

All dies Begriffe aus einem sehr deutschen Vokabular, dessen logische Fortsetzung ihre Kulmination dereinst in industriellen Schlachthäusern fand, nur eben für Menschen. Wo der durchaus wohlgemeinte Protest in groteske Radikalität mutierte und der Tierschutzbewegung einen bedauerlichen Schaden zufügte, kam das OMT der Intention derselben eher entgegen: Wenn von den knapp 600 Besuchern der Aufführung nur ein Bruchteil beim nächsten Einkauf oder Restaurantbesuch auf Braten oder Schnitzel verzichtet, oder sich ob des Geschauten gar dem Vegetarismus zuwendet, ist mehr gewonnen, als mit sinnlos-eitlen Selbstinszenierungen aus dem bekennerischen Elfenbeinturm der moralisch überlegenen Entrüstung.

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