Große Bühne im Schauspielhaus am Sonntagabend. Vier Leute, einer reißt einen Stapel Aluminiumstühle um und ein Säugling im Zuschauerraum wehrt sich mit "Ääääh". Virtuose Ahs und Ohs im Gesang werden dann noch andalusischen Flamenco hochleben lassen.

“Schwarze Milch” war der 23. Jahrgang der euro-scene Leipzig überschrieben. Mit dem Frühling begann es, mit drei Umsetzungen des 100 Jahre alten Igor-Strawinsky-Projekts “Frühlingsopfer”. Am Abschlusstag war in einer Produktion Wasser als Bedrohung des Menschen thematisiert, da laufen noch weltweit die Nachrichten von den Schäden des Taifuns auf den Philippinen. Manchmal will das Theater Gefahren und Hoffnungen zeitlos verhandeln, da bricht das Unheil herein. Publikumsrenner war auch dieses Jahr wieder der Wettbewerb um das “Beste deutsche Tanzsolo”.

Viele Vorstellungen ausverkauft

Ann-Elisabeth Wolff, Festivaldirektorin, resümiert: “23. euro-scene Leipzig erfolgreich beendet! Mit rund 6.100 Zuschauern erreichte das Festival eine Auslastung von 94,3 Prozent. Sowohl die Spielstätten des Schauspiel Leipzig, mit dem das Festival eine enge Zusammenarbeit verbindet, als auch die anderen Häuser waren meist ausverkauft. Ein gut besuchtes Rahmenprogramm mit Filmen, Diskussionsrunden und technischer Führung bereicherte das Angebot.”

Träger des Festivals ist ein Leipziger Verein, finanziert wird es durch die Stadt Leipzig und den Freistaat Sachsen. Partner sind das InterCityHotel Leipzig, Verbundnetz Gas AG, Leipzig, sowie Kulturinstitutionen und Stiftungen.

“Zu den Festivalhöhepunkten gehörte das Stück ,Melnais piens’ (,Schwarze Milch’) von Alvis Hermanis mit dem Neuen Theater Riga. Das Thema des Verlusts ländlicher Identität”, so Festivaldirektorin Ann-Elisabeth Wolff, die viel reist, Ensembles und Stücke auswählt und nach Leipzig einlädt, “und die Gefahren der Globalisierung wurden mit szenischer Verfremdung und hervorragenden Schauspielern dargestellt.”

Festival-Abschluss

War auch die Endrunde beim “Besten deutschen Tanzsolo” der letzte Programmpunkt, galt Sonntagabend im Schauspielhaus das Tanzstück “La curva” (“Die Kurve”) von Israel Galván aus Sevilla als Festivalabschluss. Flamenco gehört seit 2010 zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit – und hier sind scheinbar improvisierte Spielereien fixiert worden. Auf subtile Weise, mit wenig Personal eine große Bühne tragend.

Tanz und Musik beginnen mit Schritten und Lederjacken-Resonanzboden, der Küchentisch wird zum Konzertpodium. Weißes Pulver wird zerkleinert, breitgetreten und aufgewirbelt dass es stiebt, und bis in die Zuschauernasen nebelt. (Mehl, hörte man, war es nicht, was auf der Theaterbühne nicht zulässig ist.).
Flamenco-Piano mit Unterarm

Es sind Spezialisten ihrer Fächer, der Tänzer, die Sängerin Ines Bacan, der rhythmische Begleiter Bobote und die Schweizer Pianistin Sylvie Courvoisier, die zwischen minimalistischer Melodik, Unterarm- und Ellenbogentechnik nicht widerstehen konnte, dem Konzertflügel durch Eingriffe, Werkzeuge und Klebebänder verstörende aber auch schon altbekannte Klangbereiche zu entlocken. Da kann der Schlagzeuger mit Werkzeugen auf dem Küchentisch, Singstimme, Zwischenrufen anders mit dem Tänzer und der Sängerin arbeiten. So sehr die Pianistin als Klavierbegleiterin am Geschehen dran sein kann, so schafft sie sich ihre eigene Musik.

Nachmittags zuvor kamen mit dem “les balletts C de la B” aus Gent Miguel Moreira & Romeu Runa nach Leipzig. Bekannt ist die Compagnie hier für opulente Stücke, Ensembles und Ausstattungen, Großstadtpanoramen ganz normaler Menschengruppen haben sie in unterschiedlichen Szenenbildern, Spielorten, dramatischen und dramaturgischen Ansätzen gezeigt. Damals immer als Chef und Regisseur, hier nun als künstlerischer Berater fungierte Alain Platel.

Sado-Maso-Drama zwischen Bühne und Saal

Wenn die Voyeure in den Saal der Schaubühne Lindenfels kommen zum Stück “Der alte König” sitzt der Artist Miguel Moreira schon wartend auf einer hölzernen Palette. Neben ihm sind 13 weitere gestapelt. Ungelenk arbeitet er sich durch die einzelnen Muskeln von den Rückenwirbeln über die Fingerspitzen in den aufrechten Gang. Nach kaum zehn Geh-Minuten setzt ein peitschender Wasserstrahl ein, gerichtet auf das Individuum in spärlicher Bekleidung. Eine Viertelstunde lang. Gefühlt für den Beobachter viel länger. Physischer Wasserdruck, Beängstigung und Marter für den Wehrlosen quellen auf die trocken bleibende Tribüne.

Der Akteur vorn legt Hemd und obere Hose durchnässt ab, der schlanke, muskulöse, artistisch durchtrainierte Körper, biegsam bis zu Schlangenmenschen zugeschriebenen Haltungen, agiert mit einem Blumentopf, sucht Hilfe und Zuflucht mit Buch, Dichtung und Mikrofon, stapelt die Holzpaletten um, wenn sie unter seiner Kraft nicht zerschellen, erfindet ein Rednerpult und große Worte. Da trifft ihn wieder der Wasserwerfer.

Nach neu erfundenen Ton- und Geräuschkaskaden entpuppt sich alles Geschehene als Vorspiel zu einem anderen Vorspiel, denn die Geräusche gehen mit dem Tristan-Akkord in Richard Wagners Vorspiel zu “Tristan und Isolde” in einer Aufnahme von 1952 über.

Ein Spiel auf Leben und Tod. Als Theaterstück eigentlich unhaltbar wenn – ja, wenn – wenn nicht der Produzent auch der Darsteller wäre: Miguel Moreira. Der kriegt dann auch langen Applaus, und wer sich eine Publikumsdistanz hat bewahren können, steht auf dabei.

Was bleibt? Auch ein Stück Textübersetzung aus dem Programmheft: “Pflanz keine schlechten Tage an. / Sie wachsen zu Wochen.”
Runder Tisch – ein Leipziger Symbol

Alain Platel, der hier mit verantwortet, ist auch die Idee vom wettbewerbsfähigen Tanzen auf dem Tisch zu verdanken. Nur gibt es den Originalwettbewerb in Gent gar nicht mehr. Und die euro-scene Leipzig muss sich zwischen den Wettbewerbsjahren oft nach dem “Tanzsolo” fragen lassen.

Der Runde Tisch ist in Leipzig ein Symbol, weniger als Möbel der legendären Ritter der Tafelrunde, sondern seit den Demonstrationen 1989 hin ins Jahr 1990, als zuerst die Dialoge zwischen Obrigkeiten und beherzten, mündig sein und Verantwortung kontrollieren wollenden Bürgern an solchen oder so genannten Runden Tischen ausgetragen wurden. Manche davon waren eckig, was der Bedeutung nichts nahm.

Die Idee des Tanzwettbewerbs hier her zu holen, ist einen Nachhaltigkeitspreis wert. Dass es noch dazu um ein Solo geht, mit fünf Minuten Ausdauer und Geduld, beim Tänzer und im Publikum ebenso, Aufmerksamkeit und Freiheit für diesen einen Menschen auf der Rampe – das ist ein denkmalsträchtiges Zeichen. Nachdenkenswert, wenn weiter öffentlich über Leipziger Denkmäler für Freiheit, Einheit und die Beziehung der Leipziger Bürger dazu gesprochen wird.

Tickets zum Wiederkommen

Wer für die “Tanzsolo”-Endrunden Tickets kaufte, hat einen 2-Euro-Gutschein in der Hand für weitere Theaterkarten im Schauspielhaus. Eine nette Geste zwischen Festival und angestammter Institution, deren in diesem Herbst gestartete neue Intendanz die Premiere Elfriede Jelineks “Rechnitz” ins Festivalprogramm einbrachte.

Neu im euro-scene-Alltag waren Tippzettel zur Bewertung der “Lieblingsproduktionen”, die fünf Möglichkeiten des Urteils zwischen “nicht gut und sehr gut” zulassen, samt des Gewinns von drei Theaterkarten bei Vermerk von Name und Adresse. Der Sieger-Compagnie winkt ein weiteres Gastspiel in Leipzig mit einem neuen Stück.

Die nächste euro-scene Leipzig findet vom 4. bis zum 9. November 2014 statt – dann zum 24. Mal.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar