Es gehört schon was dazu, Goethe und Honoré de Balzac zusammenzubringen. Aber genau das versucht Autor und Regisseur Jörg Albrecht mit dem Stück „Gewonnene Illusionen“, das am heutigen 1. Oktober im Schauspiel Leipzig Premiere hat. Dabei geht es eigentlich eher um eine Persiflage von Balzacs „Verlorene Illusionen“, die als dreibändiger Roman zwischen 1837 und 1843 entstanden. Wir sind ja so viel weitergekommen. Auch im Selbstbetrug.

Denn tatsächlich geht es in Albrechts Stück um den Selbstbetrug einer Stadt. Das steckt schon in dem Vers, den der betrunkene Frosch in Goethes „Faust. Der Tragödie erster Teil“ in Auerbachs Keller von sich gibt: „Wahrhaftig du hast Recht! Mein Leipzig lob’ ich mir! / Es ist ein klein Paris, und bildet seine Leute.“

Denn in Balzacs Roman geht es auch um Folie, um das Den-Schein-Wahren. Deswegen stürzen sich bei ihm ja so viele Lebemänner und Lebefrauen, die in der Zeit des großen „Enrichissez-vous!“ auf ihre große Chance lauern, beim reichen Gobseck in Schulden und verkaufen für den schönen Schein auch ihre Seelen und Herzen.

Deswegen lässt sich Balzacs „Menschliche Komödie“ heute so schwer lesen: Weil man sich fortwährend an die Leipziger Gegenwart erinnert fühlt.

Es ist also ganz und gar kein Zufall, dass Albrecht den großen französischen Romancier und den so oft falsch verstandenen „Faust“ zusammenbringt. Und zwar in Leipzig, einer Stadt, die ganz unübersehbar versucht, sich einen schöneren Schein zu verpassen und sich den güldenen Glanz des Erfolgs zuzulegen, wo so viele Leipziger vergeblich versuchen, diesen Erfolg zu erhaschen.

Mit den Worten des Schauspiel Leipzigs: „Das Stadtleben in Leipzig blüht um die vorletzte Jahrhundertwende, als Goethe einem versoffenen Studenten in Auerbachs Keller diesen Ausruf in den Mund legt. Heute ist Leipzig im 21. Jahrhundert angekommen und hat sich zur Hype-Stadt entwickelt. Und wie damals Faust und Mephisto von den urbanen Verheißungen der Messestadt angelockt wurden, will der Zuzug nach Leipzig auch seit einigen Jahren nicht mehr abreißen – doch welche Versprechungen schüren diesmal die Aufregung um die Stadt?

Honoré de Balzacs Roman „Verlorene Illusionen“ beleuchtet das Spannungsfeld zwischen Schein und Sein im Paris des 19. Jahrhunderts und widmet sich der Frage, wie man sich als etwas verkaufen kann, das man nicht ist – um es am Ende doch zu sein. Der Roman wird zur Folie, vor der sich „Gewonnene Illusionen“ mit dem Phänomen „Hypezig“ und dem der Self- und Fremdbrandings der Stadt auseinandersetzt.

Während es in Balzacs Geschichte der arme, wunderschöne Provinzdichter Lucien ist, der unwiderstehlich von der Welt der royalen Bohème angezogen und von einer Sehnsucht nach großstädtischer Anerkennung nach Paris getrieben wird, sind es in „Gewonnene Illusionen“ die ZuschauerInnen, die Leipzig, dieses klein Paris, im Theater erlaufen können – das ganze Schauspielhaus wird zur Miniaturversion eines städtischen Hypes.

Doch wer wird hier gerade gehypt – und wie lange? Die Bourgeoisie? Die KünstlerInnen? Die Arbeitslosen? Die MigrantInnen? Die radikalen Ränder? Finden wir heraus, wer welche Rolle spielt. Durchwandern wir mit der Straßenkarte vom Paris des 19. Jahrhunderts die Hype-Stadt Leipzig!

„Gewonnene Illusionen“, das im Schauspiel heute seine Uraufführung erlebt, ist der zweite Teil der im Fonds Doppelpass der Kulturstiftung des Bundes geförderten Kooperation „Ceci n’est pas un HYPE!“ zwischen dem Schauspiel Leipzig und dem Theaterkollektiv copy & waste, bestehend aus Autor Jörg Albrecht und Regisseur Steffen Klewar. Die auf zwei Jahre angelegte Kooperation widmet sich der „Boomtown“ Leipzig und beschäftigt sich mit den Inszenierungsstrategien einzelner ProtagonistInnen, Gruppen oder Stadtteile, die gemeinsam „Hypezig“ kreieren.

Premiere im Schauspiel Leipzig ist am Sonntag, 1. Oktober, um 19:30 Uhr. Spieldauer ca. 3:00 h, keine Pause.

Weitere Aufführungen am 2. und 3. Oktober.

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