Eine sichtbare Narbe ziert Jonas Kaufmanns Handgelenk an der Stelle, an der ihm der Bereitschaftspolizist die Handschelle so fest zudrückte, dass ihm das stumpfe Metall ins Fleisch schnitt. Der Chemie-Fan, (richtiger Name ist d. Red. bekannt), ist einer von vielen, die am 28. September von Polizisten geschädigt wurden. Ein Internet-Video, das vergangenen Sonntag auftauchte, zeigt die Festnahme. Unterdessen äußert sich erstmals auch die Staatsanwaltschaft zum Vorgang, während die Polizei schon mal einen weiteren Einsatz ankündigt.

Völlig unvermittelt wird der Leipziger, der auf einer Sitzbank steht, von einem Polizisten zu Boden gerissen. Drei Beamte stürzen sich auf ihn. Man hört seine Schreie und Flüche. “Ich hab mich nicht gewehrt”, sagt der junge Mann. Die Schilderungen des Mitzwanzigers klingen nicht zuletzt wegen der verfügbaren Videobilder überzeugend. Dennoch fertigten die Polizisten gegen ihn eine Anzeige. Wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte. Möglicherweise ein Vorwand, um sein Handy beschlagnahmen zu können. Damit hatte er nämlich bereits drei Videos von dem Einsatz gedreht, der mittlerweile getrost als Skandal bezeichnet werden kann.

Anlass war ein Ladendiebstahl, den Fans vor dem Bezirksliga-Spiel der BSG Chemie beim VfB Zwenkau begangen haben sollen. “Mir wurde nach der Festnahme von der Polizei gesagt, 25 Chemiker hätten einen Discounter ausgeraubt”, erzählt Kaufmann. Schaut man sich die Aufnahmen an, die im Netz kursieren, erhält man unweigerlich den Eindruck, die Bereitschaftspolizisten würden mit den Fans “Räuber und Gendarm” spielen.

Befürworter des Einsatzes, darunter Polizeipräsident Bernd Merbitz, argumentieren, vor dem Spiel habe sich ein Landfriedensbruch ereignet. Allerdings muss ihnen entgegnet werden, dass die Beamten bei aller Legitimität der geplanten Personalienfeststellung selbst für die massive Eskalation der Lage sorgten.
Wie die L-IZ bereits am 2. Oktober, 4 Tage nach den Vorfällen berichtete, hatten Vertreter von Verein und Fanprojekt hatten der Polizeiführung vor Ort angeboten, zwischen Ordnungsmacht und Chemie-Zuschauern zu vermitteln. Hinzu kommt, dass die Beamten selbst anscheinend nicht der Meinung waren, den Fans Sinn und Zweck ihrer Maßnahmen zu erläutern. “Mit mir hat kein Polizist gesprochen”, berichtet Kaufmann. Nachvollziehbar also, dass sich viele Betroffene zu unrecht stigmatisiert fühlten, den Einsatz mit ihren Handys dokumentierten und sich teils auch den polizeilichen Maßnahmen widersetzten.

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Kaufmanns Anwalt möchte Anzeige erstatten. Außerdem verlangt der Chemie-Fan sein Handy zurück, mit dem er laut Beschlagnahmungsprotokoll Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte geleistet haben soll. Eine Erklärung, wie dies möglich sein soll, blieben ihm die Beamten seinerzeit schuldig. Die darauf befindlichen Aufnahmen kommen als jetzt Beweismittel in Frage. Einerseits um seine Unschuld zu beweisen. Andererseits könnten die Filme zur Verurteilung von Polizeibeamten beitragen. Sollten Polizisten – dem Korpsgeist folgend – die unliebsamen Aufnahmen voreilig gelöscht haben, wäre dies von strafrechtlicher Relevanz.

Am Freitag äußerte sich erstmals die Leipziger Staatsanwaltschaft zu dem Fall. “Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und der Polizei zu den Vorkommnissen im Vorfeld und im Nachgang zu dem Fußballspiel der BSG Chemie Leipzig in Zwenkau am 28. September dauern an”, so Oberstaatsanwalt Ricardo Schulz gegenüber L-IZ.de. “Soweit sich im Rahmen der Ermittlungen Anhaltspunkte ergeben, die den Anfangsverdacht strafrechtlich relevanten Handelns durch Polizeibeamt ergeben, werden unabhängig von Anzeigen von Amts wegen seitens der Staatsanwaltschaft entsprechende Ermittlungen geführt.” Weitere Aussagen dazu seien derzeit nicht möglich.

Die Polizei hingegen scheint aus ihren Fehlern nicht gelernt zu haben. Vor dem morgigen Auswärtsspiel der Chemiker in Delitzsch ließen die Beamten den Fans ausrichten, sie würden Personalienfeststellungen beabsichtigen, ohne das es dazu einer konkreten Gefahr bedürfe.

Noch steht das Video hier im Netz
http://www.myvideo.ch/watch/9263728

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