Der Straßenzustand (41 %) taucht ganz oben auf, wenn die heutigen Leipziger die Probleme der Stadt benennen sollen, Kriminalität und Sicherheit nach der kruden Drogenbekämpfungsdebatte von 2011 auf Rang 2 (41 %), Arbeits- und Ausbildungsplätze auf Rang 3 (26 %). Armut folgt auf Rang 4 (25 %), geschwisterlich vereint mit der Finanzsituation / Verschuldung der Stadt auf Rang 5 (23 %). - Sind das Leipzigs größte Probleme? - Nicht ganz.

“Wenn Sie noch auf ein anderes Problem aufmerksam machen möchten, so können Sie das in den folgenden Zeilen tun”, hieß es dazu noch im Fragebogen zur “Bürgerumfrage 2011”. Die Problemfelder, die die Stadt hier (nicht zum ersten Mal) abgefragt hat, waren alle zum Ankreuzen vorgegeben. Was fällt einem, wenn man die 22 Problemfelder durchgearbeitet hat, noch ein? – In der Regel nichts. Im normalen Leben eine Menge. Denn bei Problemen ist es in menschlichen Gesellschaften so: Man nimmt nur das als wichtig, was gerade akut scheint, worüber alle reden. Und die hohe Wichtung von Kriminalität und Sicherheit hat genauso viel mit der medialen Aufmerksamkeit zu tun wie die Wichtung des Straßenzustands. Das sind einfache Themen. Das eine könnte man einfach mit viel Geld lösen. Und beim anderen rufen ja einige Leute in Leipzig laut genug nach einem härteren Durchgreifen.

Dabei sind es nur sekundäre Probleme. Das Straßenflicken ist ohne eine bessere Finanzausstattung der Kommune nicht zu haben. Aber wen berühren die Sorgen den Finanzbürgermeisters so emotional wie das Loch im Pflaster vorm Haus?

Die Leipziger sind schizophren. Wahrscheinlich genauso schizophren wie alle Stadtbewohner der Welt. 41 Prozent beklagen sich über den Straßenzustand, 15 Prozent halten hingegen Straßenbaustellen für ein Problem. Sollten sich Leipziger Mathematiklehrer diese Problem-Befragungen der Stadt genau betrachten, werden sie wahrscheinlich ins Taschentuch beißen vor Verzweiflung: Was haben denn die Leipziger bei ihnen im Unterricht eigentlich gelernt?

Die meisten wenig. Die Logik endet nach dem erfolgreich abgeschriebenen Testat. Bildung ist Glückssache. Bleibt sie auch. Sie taucht nicht als Problem auf. Dabei ist sie eines der größten der Stadt. 13 bis 14 Prozent der Schulabgänger ohne Abschluss – das ist schlimmer als alle Schlaglöcher zusammen. Bildung gehört zu den Primärproblemen der Stadt. Dass Schulen fehlen und teilweise in jämmerlichem Zustand sind, hat auch mit der Unfähigkeit von gewählten Sachsen zu tun, die wirklich wichtigen Probleme zu erkennen und in Zusammenhang zu bringen. Das x und das y in der Gleichung zu finden, bei der am Ende Tausende Schlaglöcher und Armut als Dauerphänomen stehen.

Armut ist oft Folge schlechter Bildung und fehlender Berufschancen. Die jungen Eltern wissen das. Auch deshalb tauchen Kindertagesstätten und Schulen recht deutlich auf in der Problemwichtung: Kitas mit 15 Prozent, Schulen mit 10 Prozent. Tendenz steigend, denn das Problem ist seit 12 Jahren zu erwarten gewesen. Nur die Mathematikkenntnisse in der höheren sächsischen Politik waren, wie jetzt die Kinder und Jugendlichen zu spüren bekommen, mangelhaft.

Wieviel Taschentücher zerbeißt eigentlich ein durchschnittlicher Leipziger Mathematiklehrer?Und welches Problem fehlt neben dem Problem “Bildung”, wenn schon Armut mit 25 Prozent Wichtung in der Liste steht? – Logisch, sagt der Mathematiklehrer: Einkommen. Die Einkommen in Leipzig sind das zweite Mega-Problem. Wenn sich das nicht ändert – und zwar deutlich ändert, bleibt alles andere so, wie es ist – das Schuldenproblem (weil die Steuereinnahmen fehlen), das Bildungsproblem (weil Kinder aus sozial schwachen Familien weiterhin miserable Bildungschancen haben), das Kriminalitätsproblem (weil Kinder ohne Bildungschancen sehr häufig Auswege suchen, die gegen die Gesetze der braven Mehrheit verstoßen), das Ausbildungsproblem (weil Jugendliche ohne Abschluss dem Ausbildungsmarkt fehlen), das Wohnkostenproblem (weil man von Hungerlöhnen keine steigenden Mieten bezahlen kann) usw.

Ein Lösungsansatz wäre eine funktionierende Wirtschaftsförderung. Hat Leipzig eine? – Die Zahlen sprechen dagegen. Auch wenn, wie auch FDP-Stadtrat René Hobusch herausliest, eine Mehrheit von 81 Prozent der Bürger der Wirtschaftsförderung, Ansiedlung von Investoren, Unternehmern und Existenzgründern eine hohe kommunalpolitische Priorität beimisst. Mehr als die Hälfte der Befragten sieht diese Aufgabe sogar als “sehr wichtig” an (55 Prozent). “Auch hier können wir in Leipzig mehr tun, als bisher geschieht. Im Rahmen der Haushaltsverhandlungen 2011 konnten wir die Mittel dafür leider nur um 100.000 Euro erhöhen”, erläutert Hobusch.

Dafür gibt’s für die neue regionale Wirtschaftsförderung über 800.000 Euro pro Jahr. Ob die dann auf den Punkt “Armut” achten wird, bleibt noch offen. Die Grundsicherung für Bedürftige wurde immerhin von 69 Prozent der Leipziger als wichtig eingeschätzt, die elementare Daseinsvorsorge von 72 Prozent. Ist es da logisch, dass mehr Befragte finden, man könne bei Museen und Ausstellungen (44 %), Oper, Gewandhaus und Schauspiel (36 %) sparen?

“Statt Millionen von Euro in der Erschließung eines neuen Premiumquartiers zu versenken oder dringend notwendige Reformen in den Kulturbetrieben zu verhindern, sollte der Oberbürgermeister seine Hausaufgaben im Bereich der Pflichtaufgaben machen”, sagt Hobusch.

Halb hat er recht. Denn wenn 31 Prozent der Leipziger weniger als 800 Euro im Monat zur Verfügung haben, dann haben sie keine Kultur im Sinn – dann geht es ums tägliche Essen, Sparen auf ein neues Paar Schuhe und in der Regel nervende Kämpfe mit einem Jobcenter, das von der Stadt auch noch zum Kürzen verdonnert ist. Leipzig spart auf Kosten der Armen.

Das dritte Mega-Problem der Stadt ist also logischerweise die menschliche Solidarität. Im Stadtrat, das darf gesagt sein, ist sie nicht zu finden, sonst hätte es am 18. Juli deftigen Protest gegeben, als die Zielvereinbarung fürs Jobcenter Leipzig zur Information vorlag, – aus allen großen Fraktionen. Hat es nicht. Die Ego-Mentalität der modernen neoliberalen Politik ist längst angekommen in Leipzig.Deswegen ist auch in Sachen Bildung kein Zeitenwechsel zu erwarten, auch wenn die Stadt dem Thema seit ein paar Jahren ein dickes Kapitel widmet in der Bürgerumfrage. Für eine Mehrheit der Leipziger (59 %) hat Weiterbildung einen hohen Stellenwert. Die Zahl ist nur deshalb so niedrig, weil natürlich auch Ältere und Alte befragt wurden. Das Bedürfnis nach Weiterbildung sinkt im Lauf des Lebens. Bei den 18- bis 25jährigen liegt der Wert noch bei 86 Prozent. Bei den 65- bis 85jährigen liegt er dann bei 43 Prozent.

Und hier kommt einfach mal der unselige Wert von 13 bis 14 Prozent der Schüler ins Bild, die die Schule ohne Abschluss verlassen. Wollen die nicht? Ist Bildung für sie kein Wert?

Die “Bürgerumfrage 2011” ist deutlich: Nur 5 Prozent der jungen Leute sagen, dass (Weiter-)Bildung für sie einen geringen oder gar keinen Wert hat. Der Rest verschwindet nur im Nirwana der fehlenden staatlichen Angebote. Das ist alles. Das sind die, denen Lernen nicht leicht fällt. In der Regel, weil sie aus sozial schwachen und damit oft “bildungsfernen” Schichten kommen. Sie brauchen besondere Angebote. Sie brauchen frühe unterstützende Angebote schon im Kindergarten. Das hat man in Leipzig schon erkannt – steht aber vor dem selben Problem wie bei den Schlaglöchern: Das Geld für diese Angebote fehlt.

Denn Bildung ist eben nur zum Teil Privatinitiative. Das auch: Wer klüger werden will, schreibt sich in der Volkshochschule ein. Am fleißigsten tun das übrigens Schüler und Studierende – sie nutzen am häufigsten die dortigen Sportangebote, die Fremdsprachenangebote und die Gesundheits- und Präventionskurse. Dahinter folgen in der Regel (Ausnahme Sport) die Rentner. Und erst dann die Erwerbstätigen. Denn sie haben ein Problem: Sie haben keine Zeit. Sie würden gern, aber die Kurse, die sie belegen würden, liegen für sie ungünstig.

Aber das Kapitel heißt ja “Weiterbildung”. Irgendwer hat erkannt, dass man im Beruf nur fit bleibt, wenn man immer wieder weiterlernt. An beruflichen Weiterbildungen nahmen denn auch etliche Leipziger teil. 40 Prozent der Befragten, 58 Prozent unter den Erwerbstätigen. Die Zahl trügt, denn sie umfasst das Wörtchen “irgendwann”. “Haben Sie irgendwann an einer beruflichen Weiterbildung teilgenommen”, lautete die Frage. So betrachtet ist der Wert ein schlechter Wert. Er sinkt schon deutlich, wenn der Zeitraum auf die letzten drei Jahre eingegrenzt wird. Und mit der Stellung im Erwerbsleben erst recht. Denn mit den höchsten Werten bei Lehrgängen und Kursen im Beruf stechen Beamte und leitende Angestellte deutlich heraus. Kommen hier selbst in den letzten drei Jahren auf Werte um 40 bis 50 Prozent, während es Selbstständige nur auf Werte zwischen 20 und 29 Prozent schaffen, Ungelernte und Berufsfremde landen deutlich unter 20 Prozent.

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Und was hindert die Leipziger, an beruflichen Weiterbildungen teilzunehmen? – Arbeitslose sagen am häufigsten: “keine passenden Angebote gefunden”. Was man auch als Kritik verstehen darf an den Angeboten von Arbeitsagentur und Jobcenter. Den 10.000. Mediengestalter und 20.000. Floristen und 30.000. Gabelstaplerfahrer braucht wirklich niemand in Leipzig. Es wurde in den vergangenen Jahren auch viel Geld zum Fenster rausgeschmissen für solche sinnlosen Weiterbildungen.

Erwerbstätige sagen am häufigsten: “Die Kosten sind mir zu hoch” oder “Der Arbeitgeber stellt mich nicht frei”.

Auffällig ist eine Aussage, die Leipzigs Statistiker zum Thema machen: “Auch bei den Befragten, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, schwindet mit zunehmendem Alter der Stellenwert der Weiterbildung. Während bei den unter 45-jährigen noch fast 70 Prozent Weiterbildung mit einem ‘sehr großen’ oder ‘großen’ Stellenwert versehen, tun dies bei den 55-jährigen und älteren nur noch 25 Prozent.”

Man sieht regelrecht, wie die Enttäuschung zuschlägt, dieses alle Motivation tötende: “Es hilft ja doch nichts”. Auch da versagt die Leipziger Arbeitsmarktpolitik gründlich. Die Peitsche ist kein wirklich gutes Motivations-Instrument.

Dass sich diese Demotivation auf die Kinder fortpflanzt, wenn sie in solchen Familien aufwachsen, ist eigentlich logisch. Was dann ihre Bildungskarrieren beeinflusst. Logisch, wird da jeder Mathematiklehrer sagen. Schlechte Arbeitsmarktpolitik ist schlechte Bildungspolitik.

Womit eigentlich klar ist, dass Leipzig vier Probleme hat. Der Rest ist nur Ergebnis. Das hier sind Leipzigs vier Probleme:

Einkommen

Armut

Bildung

Solidarität

Alle Diskussionen über Schlaglöcher oder kriminelle Jugendliche sind nur Augenwischerei. Die natürlich funktioniert. Es gibt genug Leipziger, die sich lieber über sekundäre Probleme ereifern, als sich bei den wirklich wichtigen Problemen zu engagieren. Und der Großteil der Leipziger Stadträte ist da kein bisschen anders als ihre Wähler.

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