Ja wovon träumt ein Leipziger, der hier nicht aufgewachsen ist, der die friedliche Revolution '89 nur vom Hören-Sagen und aus dem Geschichtsunterricht kennt. Wovon träumt so ein Leipziger "Neubürger"? Müsste der nicht wunschlos glücklich sein, weil viele der Träume, wofür die Menschen damals um den Promenadenring zogen, auch weitestgehend in Erfüllung gegangen sind: Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, freie Wahlen und uneingeschränkter Konsum sind auch in Leipzig (Lebens-)Standard und die Luft, liebe Ökos, ist ja auch viel sauberer. Wovon träumt also so ein Mensch?

Auf das Thema angesprochen, habe ich mich auch im Freundes- und Bekanntenkreis umgehört, sogar auf einer Party wurden die Gäste nicht verschont. Die häufigsten Antworten: Weltfrieden, Zeit, Gesundheit, Glück, Sex. Kein Wort vom Eigenheim im Grünen mit zwei Kindern, Geld und zwei Autos in der Garage. Das waren in den 1990ern doch mal die Träume und der Inbegriff von Glück, Gesundheit, Zeit (für die Familie) und Freiheit.

Dieser Traum scheint heutzutage aus der Zeit gefallen. Selbst mit der Pendlerpauschale ist das Wohnen im Grünen kaum noch bezahlbar für den Einzelnen, für die Gesellschaft war es seit jeher nur auf Pump finanzierbar. Die zusätzlichen Straßen und Versorgungsleitungen, der hohe Energieverbrauch, der Lärm etc. kostet und schadet uns allen – meist sogar denen, die auf die ehemals Grüne Wiese gezogen sind.

Und immer häufiger kommen sie zurück. Die, die den Traum vom Eigenheim auf der Wiese hatten. Sie kommen zurück, weil sie zum Teil auch festgestellt haben: So toll war das in der Eigenheimsiedlung dann doch nicht. Autofahren macht nur begrenzt Spaß, öffentlichen Personennahverkehr gibt es kaum, Kultur gibt’s am Stadtrand schon gar nicht und auf Dauer ist der Nachbar trotz der mittlerweile großen Zypressen als Sichtschutz nicht mehr auszuhalten.

Davon aber mal abgesehen: Das ganze kostet Zeit und Geld. Zeit zum Pendeln, Zeit und Geld für den Erhalt des Hauses, sogar zusätzliche Zeit um was erleben zu dürfen. Der Teufelskreislauf dreht sich aber weiter, denn um Geld zu bekommen, ist wieder gut bezahlte Arbeit notwendig. Arbeit kostet wiederum Lebenszeit. Zeit, die für die Selbstverwirklichung und/oder die Verbesserung der Lebensbedingungen aller möglicherweise wieder fehlt.
Da ist es doch erfreulich, dass es in der Stadt Leipzig wieder größtenteils schön ist, die Wohnungen sind weitestgehend saniert, das “Einheitsgrau” ist einer bunten Vielfalt gewichen, dank Straßenbahn und Bus ist in der Stadt alles erreichbar. Einkaufen geht auch wieder zu Fuß. Ja und mit dem Rad sind es immer nur zehn bis fünfzehn Minuten durch den Park.

Das Eigenheim im ehemals Grünen ist schon deshalb weniger attraktiv als das Leben in der Stadt Leipzig. Darüber hinaus wird das Eigene weniger wichtig. Was würde Karl Marx heute sagen, wenn er wüsste, wie leicht Eigentum und Besitz 20 Jahre nach der Wende entkoppelbar sind. Leihen, borgen, tauschen auf Zeit setzt sich in Leipzig immer mehr durch. Denn seien wir doch mal ehrlich: Nahezu niemand braucht beispielsweise eine eigene Bohrmaschine, die dann rund 360 Tage im Jahr unbenutzt bleibt, aber Geld kostet und Platz braucht. Ähnlich ist das mit dem Auto – falls es dann doch mal notwendig wird, kann man es auch einfach borgen.

Und nicht nur das: Leipzigs Kultur ist vielfältiger denn je. Auch wenn manch Arbeiterchor dem Erwerbslosenchor gewichen ist, so mangelt es nicht an Selbstdarbietung und Selbstdarstellung Einzelner und Gruppen. Überregional bekannte Galerien zieren heute so manche Straße, wo jahrelang Leerstand herrschte. Es gibt wieder lebendige Straßen, also Orte, wo Menschen den öffentlichen Raum für schöne Stündchen nutzen, Kaffee trinken oder flanieren. Das alles ist kein Traum mehr, das ist schon längst Realität.

Ein Traum wird dagegen wohl noch eine Weile bleiben: Gesellschaftliche Prozesse integrierter in die Stadtentwicklung einzubinden, damit diese sich miteinander befruchten, zum Wohle aller und nicht nur Einzelner. Dann kann auch der Organismus Stadt weiter prächtig gedeihen. Dazu müssten allerdings die Bedürfnisse der Gesellschaft in den Vordergrund rücken. Was brauchen die Menschen dieser Stadt tatsächlich? In welchem Umfeld wollen diese Menschen bspw. wohnen? Brauchen alle Menschen im erwerbsfähigen Alter Arbeit? Und wo sollte die Arbeit dann verrichtet werden?

Der Mensch möchte letztlich doch nur glücklich sein. Das funktioniert am besten in einer Stadt, in der es ein Miteinander gibt, Gruppen nicht gegeneinander ausgespielt werden und Kommunikation stattfindet, sei es im Haus oder auf der Straße. Eines der ganz großen Grundbedürfnisse ist Kommunikation. Da stellt sich auch für die integrierte Stadtentwicklung die Frage: Wie kann trotz Parallelgesellschaft in den Online-Communities wieder persönliche Kommunikation von Angesicht zu Angesicht ermöglicht werden? Reicht da schon die Bank am Wegesrand oder muss es gleich ein ganzer Spielplatz sein? Wie muss der öffentliche Raum gestaltet werden, dass Menschen ihrem Grundbedürfnis nach Kommunikation ungehindert nachgehen können und welche Effekte bspw. auf Sicherheit und Wohlbefinden ergeben sich bei entsprechender Gestaltung.

Traumhaft dürfte es allerdings erst dann sein, wenn überall Menschen gern auf der Straße zu Fuß unterwegs sind und Gehwege als solche nicht mehr notwendig sind, weil die wenigen Autos, die noch verkehren, auch rücksichtsvoll gesteuert werden. Aber dafür – nunja – dafür ist der Leipziger ’89 nicht auf die Straße gegangen. Davon können möglicherweise nur Zugezogene träumen.

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