Seit einem Jahr gibt es sie, die Gruppe Essenz. In einem langen Interview haben Judith, Niklas und Chris über bereits gelaufene Aktionen der Leipziger Aktionisten gesprochen, viele Fragen rings um Haltungen zu Mitmenschen und ihre Meinungen zu aktuellen Fragen in Leipzig beantwortet. Was mit einer Büchersammelaktion für eine Bibliothek für Asylbewerber begann, soll viele weitere Aktionen nach sich ziehen. Was sie dabei antreibt, wie sie grundlegende zwischenmenschliche Bereitschaft zu Miteinander, statt Gegeneinander verstehen und was sie in Planung haben - im dritten Teil des großen L-IZ-Interviews mit der Gruppe Essenz.

Auch abschweifen kann man mit den Dreien ganz gut. Urplötzlich ist man in der weiten Welt gelandet, globale Fragen und lokale Themen liegen auf einmal bunt gestreut auf dem Tisch ausgebreitet. Längst haben alle das zweite mal Getränke geordert, noch immer stellt sich die Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält und warum es vielleicht nur scheinbar oft so schwierig scheint, für Probleme auch Lösungen zu finden. Das Mitschnittgerät läuft wieder – auf zur dritten und letzten Runde mit den drei Abgesandten der Gruppe “Essenz”.

Wir reden also über lokale Fragen, die sich letztlich zu einem großen Ganzen zusammenfügen?

Niklas: Ja, ich finde es vor allem wichtig, dass wir zeigen können, dass es nicht nur am Geld und an der Politik der Stadt liegt, sondern auch an den Menschen, die hier leben.

Was wollt ihr dazu beitragen? Was will die Gruppe “Essenz” eigentlich?

Chris: Letztlich wollen wir als Gruppe uns weniger mit den ganz globalen Zusammenhängen auseinandersetzen. Es ist sicher etwas, worüber wir uns informieren, was wir im Hinterkopf haben, was wir diskutieren. Aber man kann kein systemübergreifendes Programm schreiben, damit alles funktioniert – das wird es nicht geben.

Niklas: Dass wollte ich vorhin eigentlich sagen – dass sich die Leute eben nicht immer nur auf die “große Politik” stürzen können, sondern das es direkt um konkrete Menschen geht. Um unser Miteinander.

Was uns ja zu Euch als Gruppe bringt. Was will “Essenz”?

Judith: Wir wollen uns keine “Gegner” suchen, wir wollen keine Schuldigen finden. Und da geht es natürlich nicht nur um die Asylbewerberproblematik in Leipzig. Aber wir versuchen durch diese konkreten Aktionen und unsere Veranstaltungen eher die positiven Kräfte in den Menschen zu wecken. Statt Gegner eben Verbündete suchen. Das ist wohl für uns der Hauptsinn der Gruppe “Essenz”.

Chris: Und da wir nur über etwas Positives sprechen können, wenn wir vorher für uns formuliert haben, was positiv für uns selbst ist. Bei der Asyldiskussion gab es zum Beispiel auch in den kleineren Gemeinden in Sachsen Flugblätter und Dinge im Internet, wo ich mir sage – ok, manches kann ich schon nachvollziehen, aber das muss weiter gesponnen werden. Es reicht eben nicht zu sagen – nein, wir wollen das oder jenes nicht. Und genau an diesem Punkt setzen wir als Gruppe an.

So thematisieren manche Veranstaltungen von uns erstmal ein philosophisches Problem. Aber dann versuchen wir es immer wieder auf ganz praktische Dinge zu beziehen. Das tun wir dann halt mit selbst geschriebenen Texten, mit Improtheater, was auch eine angewandte Seite hat – dann wird es klarer. Dann kann man sich Gedanken über das ganz reale Thema machen.

Ein Thema einer Eurer Veranstaltungen war zum Beispiel “Geh Deinen Weg” (Eine Aktion der Deutschlandstiftung Integration gemeinsam mit der Bundesliga-Stiftung – ein ideelles Förderprogramm für junge Menschen mit Migrationshintergrund). Was wollt Ihr mit Veranstaltungen zu diesem Thema beschreiben?

Judith: Der Slogan passt einfach nicht für Asylbewerber, die ihren Weg im wahrsten Wortsinn nicht gehen können. Und auch für manche Bereiche in der Schule ebenso wenig. Was wir innerhalb der Gruppe tun ist natürlich auch, soziale Befähigungen zu lernen. Etwas, was Schule heute kaum noch leistet. Weshalb wir dies freiwillig in unserer Freizeit tun.

Niklas: Die heutige Bildungslandschaft möchte, dass die Schüler einen immer weiteren Blick bekommen, aber stellt dafür kaum Zeit und Raum zur Verfügung. Also das was gern gefordert wird, das Schüler soziale Kompetenzen lernen sollen, dass sie demokratisch befähigt werden sollen und dass sie auch was die weltweiten Zusammenhänge weiter blicken können, also vielleicht noch vor 50, 60 Jahren. Selbst vor 20 Jahren schien das noch nicht so wichtig. Heute wird es zwar gefordert, findet aber kaum statt.

Wenn man dann noch sieht, wie viele verschiedene Reize sonst noch so durch Werbung, TV und so weiter mit all den erzieherischen Slogans, wie eben “Geh Deinen Weg” auf uns einwirken, während der Individualisierungsdruck immer höher wird, versteht man vielleicht, warum wir uns zu einer Gruppe zusammengefunden haben.

Also vielleicht auch weil wir immer individueller werden sollen und gleichzeitig sollen wir uns eigentlich anpassen und konsumieren. Dabei wird gern vergessen, dass wirkliche Individualität nur über Persönlichkeit und Zeit zu schaffen ist. Dafür braucht man auch den Austausch, wie in unserer Gruppe, weil wir dadurch, was wir mit der Gruppe machen, auch erst einmal für uns lernen, miteinander umzugehen. Wir lernen so letztlich lauter Dinge, die uns die Schule eben nicht beibringt. Oder eben dieser Slogan “Geh Deinen Weg” gerade nicht ausdrückt.

Damit ist also “Essenz Euer Verständnis von “den eigenen Weg gehen”?

Niklas: Wir versuchen uns natürlich auch untereinander stärker zu machen. Deshalb versuchen wir ja auch ständig Leute dazuzugewinnen. Dabei wollen wir für uns und andere auch irgendwie ein Halt sein, eine Rückbindung auch für mehr Menschen in dieser Gesellschaft.

Ein großer Anspruch.

Niklas: Ja – aber es ist ja auch notwendig. “Geh Deinen Weg” ist ja nur wieder so ein Slogan. Es gibt tausende Sprüche in der Werbung, die uns ein anderes, stark individualisiertes Gefühl geben sollen. Marlboro sagt “Don’t be a Maybe …”, H&M sagt “Du kannst nur Du selbst sein” und die Deutsche Bank sagt “Leistung aus Leidenschaft”. Das sind alles Slogans, die die Menschen zu einer angeblichen Individualität antreiben, die aber nichts darüber sagen, dass mein Weg immer mit anderen Menschen verbunden ist.

Ich kann meinen Weg also nur gehen, wenn ich ihn mit anderen zusammen gehe. Und genau dass wollen wir auch zeigen und leben in der Gruppe “Essenz”.

Das wollen wir auch bei unseren Veranstaltungen und Aktionen zeigen, dass es um mehr geht. Als nur sein individuelles Glück zu sammeln, zu konsumieren oder mehr zu besitzen, sondern das ich glücklicher werde, wenn ich mich einer Aufgabe hingebe. Gemeinsam.

Bislang seid ihr rund 50 Schüler, Studenten, Lehrer – Wie kann man bei Euch eigentlich mitmachen? Man kommt einfach zu Euch zum nächsten Treffen?

Niklas: Nun – grundsätzlich sind wir bereits jetzt ja nicht nur Gymnasiasten oder Studenten, das wäre uns vom “Milieu” her bereits zu eng. Es ist eher alles über die Freundeskreise aufgebaut, wir sind kein geschlossener Kreis von Menschen.

Judith: Unsere Gruppe ist offen für Jeden, der uns und unsere Ideen gut findet. Jeder kann also mitmachen. Auch unsere Veranstaltungen sollen ja dazu dienen, dass man uns kennenlernt.

Also konkret – es können sich Leute bei Euch melden, die bei den nächsten Aktionen, zum Beispiel beim Büchersammeln für Asylbewerber dabei sein wollen?

Judith: Genau. Gern über unsere Blogseite www.essenzleipzig.tumblr.com oder per Mail an essenz@ymail.com. Wir treffen uns grundsätzlich immer sonntags, da kann man uns dann auch persönlich kennenlernen. Also, wenn jemand Interesse an mehr als nur einem Kaffeetrinken hat und wir uns verstehen, freuen wir uns über jeden, der bei unseren Aktionen dabei sein möchte.

Ich danke Euch für das ausführliche Gespräch, Eure Geduld und Eure Zeit.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Michael Freitag über einen freien Förderbetrag senden.
oder