"Ich sehe das Anliegen prophylaktischer psychosozialer Hygiene im Vordergrund. Das ist durchaus doppelbödig gemeint, da manche das Vernichten 'zersetzender Schriften' auch als Akt der Prophylaxe und der sozialen Hygiene sehen", sagt Hans Nevídal. Der 1956 in Wien geborene Konzeptkünstler erforscht in seiner Arbeit soziale Prozesse wie auch das weite Feld experimenteller Druckprozesse. Am 10. Mai tritt er wieder in Leipzig in Aktion.

Der 10. Mai ist der “Tag des freien Buches”. Und das ist er natürlich, weil 1933 die in Deutschland zur Macht gekommenen Nationalsozialisten und ihre Helfershelfer an diesem Tag in zahlreichen deutschen Städten regelrechte Bücherverbrennungen inszenierten. Und wer glaubt, man hätte nur alles verbrannt, was irgendwie “links” (heute ja bei einigen Schmalspurpolitikern wieder so ein Kampfbegriff), kritisch oder gar antifaschistisch war, der wird beim Lesen der aufgeführten Bücher (die man auf Wikipedia finden kann) schnell eines anderen belehrt: Alle Bücher Erich Kästners standen auf der Liste genauso wie die von Heinrich Mann, Alfred Kerr und Kurt Tucholsky. Hier ging es nicht um einen politischen Gegner. Hier ging es um das gebildete, kritische Deutschland.

Aber das hatte in Deutschland schon vor den Nazis eine gewisse Tradition.

1530 verbrannte Luther in Wittenberg die Bannbulle des Papstes und ein Exemplar des corpus iuris canonici. 1534 und 1535 verbrannten die Wiedertäufer in Münster Bücher, und 1817 feierten die protestantischen Studenten der deutschen Universitäten auf der Wartburg in Thüringen mit einer Bücherverbrennung den “Geburtstag des Glaubens und der Freiheit”. Die größte Büchervernichtungsaktion der jüngeren deutschen Geschichte fand jedoch 1933 statt.

Anfang Februar 1933 kam es in der weltbekannten Buchstadt Leipzig zu Aktionen gegen missliebige Bücher. Die Leipziger Stadtbibliotheken mussten Verzeichnisse aller kommunistischen, sozialistischen und pazifistischen Literatur anfertigen, diese aussortieren und durch militaristische Werke ersetzen. Der nächste Schritt war die Gründung des “Ministeriums für Volksaufklärung und Propaganda” unter der Leitung von Goebbels, dessen erste Maßnahme die Aufstellung von schwarzen Listen des “schädlichen und unerwünschten Schrifttums” war. Nachdem Studenten und SA-Leute in Leipziger Büchereien und Bibliotheken unerwünschte Literatur beschlagnahmt hatten, wurde am 2. Mai, dem Tag des Verbots der Gewerkschaften, das Leipziger Volkshaus gestürmt und ausgeplündert. Dort befand sich eine der bedeutendsten Sammlungen linker Literatur. Tausende von Büchern wurden aus den Fenstern auf die Straße geworfen, abtransportiert und auf den Müll geworfen, ein Teil davon wurde auf dem Hof des Gewerkschaftshauses verbrannt.

Am 10. Mai fanden dann in vielen deutschen Universitätsstädten großangelegte Bücherverbrennungen statt: Berlin, Bonn, Breslau, Frankfurt, Göttingen, Greifswald, Hamburg, Heidelberg, Königsberg, München, Nürnberg und Würzburg. In Leipzig hat es keine große, öffentliche Bücherverbrennung gegeben. Der Ruf Leipzigs als Buchstadt, als Stadt der Verlage und Literatur sollte nicht beschädigt werden.Bücher und Bibliotheken sind durch die Exzesse von Herrschern und Fundamentalisten immer wieder gefährdet. Das ist der Hintergrund für Hans Nevídals Kunst-Projekte, wie sie 2002 auch erstmals in Leipzig zu sehen waren.

Der erste Teil des dreiteiligen Brandschutzfilmes “Gefährliche Stoffe” (des Österreichischen Bundesfeuerwehrverbandes) wurde an das Gebäude der Deutschen Bibliothek in Frankfurt projiziert. 2001 wurde diese Aktion an der Deutschen Bücherei Leipzig weitergeführt. 2002 fand sowohl in Frankfurt wie in Leipzig eine Aktion statt, wobei in Leipzig alte 35mm-Brandschutzfilme aus den DDR-Beständen der Feuerwehr Leipzig gezeigt wurden. Seither wird wieder alternierend in je einer der beiden Städte projiziert.

In den letzten Jahren wurde vom Künstler mehrmals die Hetze des Westens nach dem Anschlag auf das World Trade Center 2001 in New York gegen Muslime thematisiert. Voriges Jahr stellte Nevídal in einem Gespräch im Ausstellungsraum Eulengasse in FFM das Projekt unter dem Motto Boko Halal vor und zeigte danach an der Fassade der DB einen Film über die Ausrüstung der Hauptfeuerwache in Lagos und andere Brandschutzfilme aus Nigeria.

Dieses Jahr zeigt Nevídal in Leipzig Brandschutzfilme aus Syrien und andere Filme in arabischer Sprache.

Um die Gefahr nachhaltig zu bannen, setzt Nevídal auf Prävention durch die Verbindung zweier altbewährter Heilmethoden: Der immergleiche Ort der Aktion ruft Assoziationen zur Methode der Akupunktur hervor. Die Umbenennung der DB in Deutsche Nationalbibliothek zeigt die Dringlichkeit der Behandlung. Aber auch an die Homöopathie und an Paracelsus, der 1527 in Basel ein medizinisches Kompendium ins Johannisfeuer warf, lässt sich infolge der gering dosierten Gabe des (Gegen)-Giftes denken. Aus therapeutischer Sicht erscheint eine regelmäßige Wiederholung der Behandlung notwendig, daher erfolgt der Eingriff jeden 10. Mai nach Einbruch der Dunkelheit.

Deswegen will Nevídal das Projekt bis zum 10. Mai 2033 fortsetzen. Die Aktion an der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig beginnt am Freitag, 10. Mai, wieder um 22:00 Uhr.

Bücherverbrennung auf Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_verbrannten_B%C3%BCcher_1933

http://brandschutz.mur.at

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Redaktion über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar