Städte in Deutschland können leider keinen eigenen Weg gehen. Schon gar nicht Städte im Osten - wie Leipzig, das fast zur Hälfte auf Zuweisungen von Bund und Land angewiesen ist. Über 700 Millionen Euro werden zwar durch Steuereinnahmen gedeckt. Aber über 600 Millionen Euro fließen auch gleich wieder in den Sozialetat. Die Spielräume, eine barrierefreie Stadt für alle ihre Einwohner zu schaffen, sind denkbar gering. Die benachteiligten Bevölkerungsgruppen tauchen natürlich auch im "Sozialreport 2012" auf.

Sie sind in der Regel keine kleinen Gruppen, wie die Einwohnerinnen und Einwohner mit Migrationshintergrund zum Beispiel.

In Leipzig leben derzeit mehr als 44.000 Personen mit Migrationshintergrund. Zum Jahresende 2011 wurden auf Basis der Angaben des Einwohnerregisters 26.672 Ausländer und 17.737 Deutsche mit Migrationshintergrund ermittelt, was zusammen einem Bevölkerungsanteil von 8,6 Prozent entspricht.

Das waren freilich noch die Zahlen vor Auswertung des “Zensus 2011”. Nach dem Zensus gilt dies hier für Mai 2011: Von den 502.979 Einwohnern waren 38.960 welche mit Migrationshintergrund. Was dann 7,9 Prozent entsprach. Der “Sozialreport 2012” operierte freilich noch mit der alten Bevölkerungszählung.

Danach war sowohl die Zahl der Ausländer (+ 1.791 = + 7,2 Prozent) als auch die der Deutschen mit Migrationshintergrund (+ 1.843 = + 11,6 Prozent) gegenüber 2010 beachtlich gestiegen. Auch der jeweilige Anteil an der Gesamtbevölkerung nahm 2011 zu und lag zuletzt bei 5,2 bzw. 3,4 Prozent. Die größten Anteile an der jeweiligen Altersgruppe wurden bezüglich der Ausländer bei den 35- bis unter 45-Jährigen (8,5 Prozent) und bei den 25- bis unter 35-Jährigen (8,3 Prozent) und bezüglich der Deutschen mit Migrationshintergrund bei den Null- bis unter Sechsjährigen (12,7 Prozent) und bei den Sechs- bis unter 15-Jährigen (11,1 Prozent) ermittelt.

Was natürlich deutlich macht, dass der Anteil der Leipziger mit Migrationshintergrund künftig dauerhaft über 10 Prozent liegen wird. Und da diese jungen Migranten in Leipzig in Kindertagesstätten und Schulen gehen, werden sie ein ganz gewöhnlicher Teil der Leipziger Stadtpopulation sein. So heißt es im Kapitel Bildung, das gleich auf das Kapitel Migranten folgt, im “Sozialreport” auch: “Der Anteil der Schüler/-innen mit Migrationshintergrund (städtischer Durchschnitt) beträgt im Schuljahr 2012/13 insgesamt 13,4 % und steigerte sich damit gegenüber dem Vorjahr um zwei Prozentpunkte.”

Und da wurde die erste von vielen Barrieren sichtbar, mit denen Kinder aus Migrantenfamilien in Leipzig zu kämpfen haben. “Bis in das Schuljahr 2006/07 wiesen die Anteile der ausländischen Schüler/-innen an Mittelschulen und Gymnasien sehr ähnliche, leicht steigende Kurvenverläufe auf. Mit dem Schuljahr 2007/08 stieg der Anteil der Schüler/-innen mit Migrationshintergrund allerdings an den Mittelschulen stärker an, während der an den Gymnasien zunächst sank und danach auf einem niedrigeren Niveau eine nur leicht steigende Tendenz aufwies. Im Schuljahr 2012/13 beläuft sich der Anteil der Gymnasiast/-innen mit Migrationshintergrund auf 9,3 % und steigerte sich damit im Vergleich zum vorangegangenen Schuljahr um 1,7 Prozentpunkte”, ist da zu lesen. Aber auch: “Seit dem Schuljahr 2004/05 stieg auch der Anteil der Förderschüler/-innen mit Migrationshintergrund stetig und v.a. seit dem Schuljahr 2011/12 deutlich an – im Schuljahr 2012/13 liegt er bei 10,2 %.”

Kinder aus Migrantenfamilien schaffen also etwas schlechter den Übergang zu höheren Bildungswegen als ihre in Deutschland gebürtigen Altersgenossen. Wobei das auch schon wieder ein kleiner Lapsus ist: Viele Kinder mit Migrationshintergrund sind ja schon in Leipzig geboren. Es gibt auch wieder die übliche Grafik mit dem entsprechenden Aufenthaltsstatus über Niederlassungserlaubnis (36 Prozent) über Aufenthaltserlaubnis (38 Prozent) bis Duldung (2 Prozent). Aber dahinter steckt wieder die alte bürokratische Angst, dass man Menschen nicht ordentlich einordnen kann und sie vor allem da bleiben. Eine Angst, die seit über 20 Jahren auch regelmäßig angeheizt wird. Damals brachte es die deutsche Politik nach den Krawallen von Rostock-Lichtenhagen nicht fertig, dem Land ein modernes, wirklich weltoffenes Einwanderungsgesetz zu geben. Man höhlte stattdessen die alten Zuwanderungsrechte aus.

Ergebnis ist ein Land, das bei jeder Fußballweltmeisterschaft versucht, seine Weltoffenheit zu inszenieren, im Alltag damit aber zumeist scheitert. Was ja dann die Debatte um die neuen Leipziger Asylunterkünfte mehr als deutlich machte.

Dahinter steckt auch die Unfähigkeit, die längst global agierende deutsche Wirtschaft auch global und weltoffen zu denken. Jede Wirtschaftskammer weiß es, dass ein Einwandern von Fachkräften dringend geboten ist. Doch jahrelang hat man sich über eine Anerkennung auch nur der simpelsten Qualifikationen gezankt, statt einfach die nötigen Nachqualifikationen zu organisieren, um Fachkräfte für den Standort zu begeistern. Statt Türen auf, spielte man wieder: Du darfst hier nicht rein.Und Leipzig ist da – nach Berlin – noch die weltoffenste Stadt im deutschen Osten: “Wie beim Ausländeranteil, so ist auch der Anteil der Einwohner mit Migrationshintergrund in der Stadt Leipzig zwar höher als im Durchschnitt der fünf ostdeutschen Länder (4,7 Prozent), aber wesentlich niedriger als im deutschen Durchschnitt insgesamt (19,5 Prozent).”

Die Leipziger Migranten stammen aus insgesamt 163 heute existierenden Staaten. Die größte Migrantengruppe kommt mit 5.947 Personen aus der Russischen Föderation, gefolgt von der Ukraine mit 3.046 Personen und Vietnam mit 2.742 Personen. Insgesamt 10.255 deutsche Staatsangehörige haben neben dem deutschen auch einen ausländischen Pass, wiederum etwa zehn Prozent mehr als ein Jahr zuvor.

Die räumliche Verteilung der Leipzigerinnen und Leipziger mit Migrationshintergrund ist sehr unterschiedlich. Der Anteil an der Gesamtbevölkerung reicht von 29,4 Prozent in Neustadt- Neuschönefeld, 28,4 Prozent in Zentrum-Südost und 28,1 Prozent in Volkmarsdorf bis zu 1,5 Prozent in Baalsdorf bzw. 1,7 Prozent in Liebertwolkwitz.

Und sie sind ja nicht die einzigen, die zu spüren bekommen, dass Leipzig Hemmschwellen für Bürger hat, die nicht so sind wie die anderen.

Was auch die Statistiker vor Probleme stellt. Wo zieht man die Grenze, wenn man Menschen in besondere Gruppen sortiert? Perfekt ist ja keiner. Irgendein Handicap hat jeder – nur hilft es den einen beim Erfolg (Gier zum Beispiel, Machtgier, Rücksichtslosigkeit …), andere können es kaschieren oder fallen damit nicht weiter auf, weil es eine größere Gruppe betrifft, wieder andere bekommen dann Probleme.

Frühere “Sozialreports” unterschieden Menschen mit Behinderung noch nach leichten und schweren körperlichen Beeinträchtigungen.

Ab 2011 werden nun nur noch schwerbehinderte Personen in der Statistik ausgewiesen. In Leipzig leben demnach 53.753 Personen mit einem Grad der Behinderung von 50 und mehr und gelten damit als schwerbehindert. Im Vergleich zum Vorjahr nahm die Anzahl schwerbehinderter Menschen um 3,4 Prozent, (1.800 Personen) zu, was aber auch wieder eine trügerische Zahl ist, denn hier vermischen sich die angeborenen mit den altersbedingten Behinderungen. Im Effekt zwingt es die Stadtgesellschaft, trotzdem wesentlich ernsthafter über Barrierefreiheit nachzudenken.

Im Jahr 2011 hatten 42.760 Personen in Leipzig einen gültigen Schwerbehindertenausweis, dies sind fünf Prozent mehr als 2010. Und Barrierefreiheit betrifft eben auch das Erwerbsleben: “Während der Anteil der Arbeitslosen in Leipzig in den letzten Jahren sank, stieg der Anteil behinderter Menschen an allen Arbeitslosen leicht an (2010: 4,9 Prozent, 2011: 5,5 Prozent).”

Die Zahl nehmen wir hier einfach mal auseinander: Die Zahl der nicht-schwerbehinderten Leipziger Arbeitslosen sank von 2008 bis 2011 von 35.178 auf 28.221 (das heißt, um fast 20 Prozent), die der schwerbehinderten Arbeitslosen stieg von 1.630 auf 1.667. Wieder eine deutlich sichtbare Barriere: Der Leipziger Arbeitsmarkt kann Schwerbehinderten kaum neue Arbeitsplätze anbieten.

Mehr zum Thema:

Leipziger Sozialreport 2012 (7): Was hat Engagement mit Familiengerechtigkeit zu tun?
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Leipziger Sozialreport 2012 (5): Wie bekommt man heraus, ob Armut krank macht?
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Daraufhin ergibt sich die Frage: Wie hoch ist dann die Bereitschaft von Menschen, die sowieso schon mit Barrieren zu kämpfen haben, sich in der Stadt Leipzig auch noch freiwillig zu engagieren?

Das wurde allerdings noch nicht angefragt. Weder bei Migranten noch bei Behinderten. Wobei eben immer wieder der Spruch gilt: Menschen sind nicht behindert, sie werden es.

Und wer mit Barrieren zu kämpfen hat, mischt sich seltener ein. Das zumindest weiß man in einem Fall: bei Erwerbslosen. Zwar sind durchaus 13 Prozent der Erwerbslosen in einem freiwilligen Engagement unterwegs. Aber bei Erwerbstätigen, Schülern und Studenten ist der Wert mit 17 Prozent sichtlich höher. Auch diese Information wurde im “Sozialreport 2012” erstmals geliefert. Das 160-Seiten-Heft ist also durchaus geeignet, im Lauf der Jahre weiter verdichtet und qualifiziert zu werden, den alten Nachteil des amtlichen Schubkastendenkens zu überwinden und so langsam den Leipziger als höchst komplexes soziales Wesen zu erfassen.

Die Leipziger “Sozialreports” findet man hier: www.leipzig.de/de/buerger/aemterhome/jugendamt/publik/Sozialreport-der-Stadt-Leipzig-19926.shtml

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