Nun ist das Kind in den Brunnen gefallen. Die Treppen der sogenannten Verteilerebene am Hauptbahnhof sind gebaut. Und sie sind ein unüberwindliches Hindernis für alle, die in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind. Wer auf einen Rollstuhl oder eine Gehhilfe angewiesen ist oder einfach nur einen Kinderwagen schiebt, der muss über die Straße, um zum Hauptbahnhof und damit auch zum City-Tunnel zu kommen.

“Durch den Tunnel dauert es eine Minute”, sagt Günther Jähnig, Geschäftsführer des Behindertenverbands Leipzig. Über die Ampeln und Straßenbahngleise dauert es sechs Minuten für all jene, die eben nicht gut zu Fuß sind.

Dagegen wird nun demonstriert. Für morgen, Mittwoch, den 11. September, lädt der Behindertenverband für 14 Uhr zur Demo auf den Kleinen Willy-Brandt-Platz ein. “Es wird auch eine Gebärdensprache-Dolmetscherin vor Ort sein, so dass auch wir soweit als möglich Barrierefreiheit bieten können”, sagt Jähnig.
Dabei geht es ihm nicht darum, die Schuldfrage zu klären. “Bisher schieben alle Beteiligten den schwarzen Peter zu den anderen. So kommen wir nicht weiter. Wir wollen alle an einen Tisch bringen, so dass es hier zu einer Lösung kommt.” Die könnte die Form einer nachträglich eingebauten Rampe oder eines Fahrstuhls annehmen. “Eine Rampe wird möglicherweise schwierig, da der Winkel von maximal sechs Grad eingehalten werden muss”, sagt Rolf Sondershaus, der Sachverständige für barrierefreies Bauen beim Behindertenverband. Er schult Architekten in den Erfordernissen des Bauens für Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind.

“Sie sehen einen Bau aus Sicht des Gestalters. Wir sehen ihn von der Warte der Betroffenen aus”, erklärt der Diplom-Ingenieur. Er fragt sich, wie so viele, wenn es um die Verteilerebene geht, wie das Malheur zustande kommen konnte: “Der Bauantrag muss doch durch die Ämter gegangen sein.” Üblich sei es, dass auf den Bauanträgen auch nach der Barrierefreiheit gefragt werde. “Da muss der Architekt ankreuzen”, grübelt er.

Bisher hat der Behindertenverband von den Beteiligten nur Absagen für morgen kassiert: “Weder von der Deges, die für die Deutsche Bahn baut, noch dem Promenaden-Betreiber ECE kommt jemand. Dabei würden wir uns wünschen, dass wir gemeinsam das Kind aus dem Brunnen retten”, so Verbandschef Jähnig.

Den Kostenpunkt schätzt der Verband auf 200.000 Euro. “Ein Fahrstuhl, für den man in die Treppen hinein schneiden müsste, würde wohl 270.000 Euro kosten”, schätzt Bau-Experte Sondershaus. An dieser Kostenfrage werden sich wohl die Gemüter erhitzen. “Mir wurde schon gesagt, dass, wenn die Stadt das finanzieren würde, weniger Geld für Schulen bliebe. Doch solche Totschlagsargumente sind unfair. Es sollte nicht versucht werden, zwei wichtige Interessengruppen gegen einander auszuspielen”, so Verbandschef Jähnig. “Wenn wir bedenken, wie viel der City-Tunnel, wegen dem diese Verteilerbene überhaupt entstand, kosten sollte und wie viel er dann zusätzlich gekostet hat, dann sind diese Kosten vergleichsweise gering.”

Jähnig drängt darauf, dass noch vor dem 15. Dezember, wenn der City-Tunnel in Betrieb geht, umgebaut wird. “Wenn der Tunnel und die Verteilerebene schon in Benutzung sind, wird es noch umständlicher.”

Längst hat die Frage auch die mitverantwortliche Landespolitik erreicht. Am 10. September folgte nun eine Stellungnahme von Stephan Pöhler, Behindertenbeauftragter der Sächsischen Staatsregierung. Nicht nur die nicht barrierefreie Ausführung der öffentlich zugänglichen Anlage hätte für den Unmut der Betroffenen gesorgt, sondern auch die Rechtfertigungsversuche und Schuldzuweisungen im Nachgang. “Auch wenn im Zuge der Eröffnung des City-Tunnels am 15. Dezember 2013 eine barrierefreie Umgehung der Treppe unter Benutzung mehrerer Fahrstühle im Bereich des Möglichen liegt, hat dies mit selbstbestimmter Teilhabe und umfassender Barrierefreiheit nichts zu tun” so Pöhler.

Im Hinblick auf die für den morgigen Tag vom Behindertenverband Leipzig organisierten Demonstration ab 14 Uhr am Kleinen Willy-Brandt-Platz erwarte er, “das sich alle Verantwortlichen an einem Tisch zusammenfinden und bis zum 15. Dezember unter Beteiligung der Betroffenen eine tragfähige Lösung zu Stande bringen.”

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