Hektik, Gedränge und Ungeduld an der Kasse eines Discounters und plötzlich spricht mich auch noch ein Fremder an. Zum Freitagabend, wo ich doch nur schnell nach Hause will. Er will nichts Böses, er will aber auch nicht spielen, er will mir etwas Ernstes erzählen. Über sich und die Wende.

Na klar, ein Kind im Kinderwagen, was zuweilen auch noch freundlich guckt, zumindest nicht schreit, ist gerade für ältere Damen ein Grund, von alten Zeiten zu träumen. Als Kinder noch Babys waren. “Ach, ist die süß”, wird gekreischt. “Na hoffentlich bleibt es so”, hastig hinzugefügt. Alles schon dreißig Mal gehört, dreißig Mal weggelächelt. “Ja, das hoffen wir auch.” Was will man sonst auch sagen? Auf lieb gemeinte Sympathiebekundungen der alten Garde ist man als Eltern nach wenigen Lebenstagen des Kindes eingestellt. Erst recht an der Kasse, wo ein Kleinkind offenbar immer wieder die rechte Abwechslung bietet.

Kommentare älterer Herren sind allerdings deutlich seltener. Erst recht Sätze wie “Ach, wenn man noch mal so alt sein könnte und alles ganz anders machen könnte.” Was meint dieser Mann, der in der Schlange hinter mir steht? Meint er mich? Ja, er tritt neben mich und schaut mein Kind an. Er meint mich. Was tun? Die bewusste Steilvorlage aufnehmen und direkt fragen, warum das Herz drückt oder einfach auf Zuhör-Modus umstellen. “Naja, aber ob diese Welt in 70 Jahren noch lebenswert ist, weiß auch keiner”, antworte ich nichtssagend. Das Piepen des Kassenscanners lässt keine allumfassende Stille zu. Sie ist nur kurz zwischen uns, eine spannende Stille. “Ja, das stimmt auch wieder.” Stille, Warten. “Welcher Jahrgang ist es?” Soll ein Fremder wissen dürfen, wann meine kleine Begleitung geboren ist? Aber wieso eigentlich nicht?

“2013”. “Na, da kann es noch lange leben. Bis ins nächste Jahrhundert.”

Alkoholfahne. Es klingt wie ein Klischee, aber mein neuer Gesprächspartner hat ein wenig genascht, man merkt es ihm nicht an. Vielleicht nur ein Verdauungsschnaps irgendwo. Noch sind zwei Kunden vor mir dran. Wieder Stille. Dann die nächste Frage: “Und, wie haben Sie die Wende erlebt?” Ach das meint er. Die Wende. Alles anders machen können. Noch einmal die Chance haben zu dürfen. “Die Wende? Ich war fünf. Ich habe nicht viel mitbekommen.” Keine Stille. “Ach so.” Kurze Pause. “Ich bin Jahrgang 1954.” Tiefer Blick in meine Augen. Wie soll ich den Blick deuten? Ein Hilferuf? Wird hier Mitleid eingefordert? Zwei Plasteflaschen-Bier und ein paar Süßigkeiten landen auf dem Band. “Ja, da waren sie ja mit 35 Jahren damals richtig dabei.” Was für ein blöder Satz. Er kann ja selber rechnen. “Jaaaaaaa, das war ich.” Mein Gesprächspartner antwortet stolz. Ich bin gleich dran. Jetzt, wo es spannend wird. Der 60-jährige Bartträger drückt mir die Hand.

“Ich sehe schon. Sie haben alles im Griff. Das wird schon werden mit der Kleinen hier.”

“Ja, wird schon irgendwie”, bringe ich heraus und denke noch darüber nach, was er wohl meint, damals falsch gemacht zu haben. Es ist nicht die Frage, die man in einer Schlange bei einem Discounter stellt, aber er hätte es mir bestimmt erzählt, wenn die Schlange nur lang genug gewesen wäre. Nun hat er aber eine neue Gesprächspartnerin gefunden. “Na, sie konnten wohl auch nicht am Naschzeug vorbeigehen. Ist auch schwer.”

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