Bücher, die man vor ein paar Jahren gelesen hat, die setzen sich irgendwo im Kopf als Denkmuster fest. Manchmal leicht wiederzuerkennen, manchmal als kleine Erkennungsmelodie. Und als nun Susan Neiman in ihrem Buch „Widerstand der Vernunft“ ganz beiläufig einen Umberto-Eco-Essay von 1995 erwähnte, da machte es Bing. Natürlich: Der italienische Professor ist heute so aktuell wie vor 20 Jahren.

Der Essay, den Neiman nicht mal beim Titel nennt, findet sich im DTV-Band „Vier moralische Schriften“. Eco hat ihm den Titel „Der immerwährende Faschismus gegeben“. Dass der Essay heute in politischen Debatten nicht vorkommt, spricht Bände. Es erzählt zumindest davon, dass wir mittlerweile eine Politikergeneration haben, die nicht mehr liest, die kein philosophisches oder wissenschaftliches Hinterland mehr hat und sich fast nur noch im Kosmos der Talkshows, Parlamentsreden und Fraktionstreffen bewegt. Einerseits verständlich. Aber wir werden unsere Politiker nicht bedauern. Das haben sie sich selbst so organisiert.

Ich bin sogar überzeugt davon, dass sich unsere Politik deutlich verbessern würde, klüger und gehaltvoller werden würde, wenn sich die gewählten Politiker einfach regelmäßig die Zeit nehmen würden, kluge Bücher zu lesen.

Wie Lesen das Gehirn verändert, haben wir jüngst ja erst gemeldet.

Eco schlägt in seinem Essay den großen Bogen von der ersten Begegnung mit der Freiheit bis hin zur Erkenntnis, dass Freiheit kein Geschenk ist, sondern eine fortwährende Befreiungsarbeit. Ein Prozess. Zu dem auch das Nicht-Vergessen gehört.

Und dazu gehört das Nicht-Vergessen, was Faschismus eigentlich ist.

Er bringt es auf 14 frappierende Punkte. Der 14. ist übrigens genau der, der mit Trump und der Ausrufung des „postfaktischen Zeitalters“ virulent wurde: „Der Ur-Faschismus spricht Newspeak.“ Was das ist, kann man bei Orwell nachlesen.

Punkt 13: „Der Ur-Faschismus beruht auf einem selektiven oder quantitativen Populismus.“ Da macht es doch „Bing“ im Kopf, oder?

Punkt 10: „Elitedenken ist ein typischer Aspekt jeder reaktionären Ideologie, insofern es seinem Wesen nach aristokratisch ist.“

Punkt 2: „Traditionalismus impliziert die Ablehnung der Moderne. (…) Die Ablehnung der modernen Welt tarnte sich als Verurteilung der kapitalistischen Lebensweise, aber sie richtete sich in erster Linie gegen den Geist von 1789 (und natürlich von 1776). Gegen die „Aufklärung und das Zeitalter der Vernunft“.

Aber der Punkt, der mich die ganze Zeit unterschwellig immer beschäftigte, ist Nr. 9: „Für den Ur-Faschismus gibt es keinen Kampf ums Überleben, sondern eher ein ‚Leben für den Kampf‘.“ Das Leben wird zu einem „permanenten Krieg“. „Das erzeugt jedoch einen Armageddon-Komplex.“

Da wurde ich damals schon hellhörig, konnte das aber nicht schreiben, weil ich keine Zeitung hatte, wo man so etwas schreiben konnte. Die L-IZ musste wirklich erst gegründet werden. Andere Zeitungen mussten an ihren Dummheiten eingehen. Und der 11. September musste passieren. Der flimmerte damals auch über die großen Bildwände, die es auf dem Hauptbahnhof Leipzig noch gab. Und die Reisenden standen erstarrt und schweigend davor und konnten nicht fassen, was da passierte. Was sich übrigens bis heute nicht geändert hat. Die meisten Politiker und Kommentatoren reden über 09/11, als hätte da tatsächlich „das Böse“ die Welt der Guten und Gerechten herausgefordert.

Wütend fielen sie über die indische Autorin Arundhati Roy her, die ihnen ins Gesicht sagte, dass Osama Bin Laden nichts anderes war als eine Antwort auf die ganz und gar nicht friedliche Maske der USA. Eigentlich ein Fehdehandschuh, den der regierende Bush im Weißen Haus sofort aufnahm. Seitdem führen die westlichen Nationen einen völlig sinnfreien „Krieg gegen den Terror“ und haben damit einige der größten Katastrophen der Gegenwart nicht nur ausgelöst – sie haben ihre eigenen Länder zur Zielscheibe gemacht. Denn nichts anderes ist das, worüber sich eine völlig überforderte Theresa May nun auch nach dem jüngsten Terrorakt in London so echauffiert: Die Terroristen tragen den „Krieg gegen den Terror“, den Bush und Blair gern in Irak und Afghanistan gewonnen hätten, „in die europäischen Großstädte“.

Die USA schotten sich ab und zeigen dann mit dem Finger auf Europa, obwohl sie an dem ganzen Schlamassel schuld sind. So etwas darf man ruhig feige und arrogant nennen.

Eigenes Thema.

Wir wichen ab.

Was hat das mit Armageddon zu tun?

Schauen Sie sich die Filme aus Hollywood an, egal, ob die blutrünstigen Western, die Weltuntergangsfilme oder die Dystopien, in denen Außerirdische New York vernichten: Es ist die fortwährende Armageddon-Inszenierung. Es ist die Inszenierung eines Landes, das fortwährend in Endzeitstimmung lebt, bedroht von allen Seiten, immer auf sich allein gestellt. Schauen sie hin: Die Europäer kommen da nicht mal vor. Es gibt sie nicht. Es ist kein Zufall, dass Trump nicht begreifen konnte, was man mit Europa und NATO eigentlich anfangen sollte.

Und diese Katastrophenstimmung, die natürlich jeden Blick darauf verstellt, dass man das Land ja vielleicht auch mal zum Besseren verändern und zukunftsfähig machen könnte, vermischt sich mit einem weiteren Punkt aus Ecos Liste: Punkt 11. „In dieser Perspektive werden alle zum Heldentum erzogen.“ Der (einsame) Held wird glorifiziert, selbst dann, wenn er eigentlich nur ein eiskalter Killer ist. Aber Proto-Faschismus kennt keine anderen Lösungen: Alles, was er nicht versteht oder akzeptiert oder was sich nicht freiwillig unterwirft, vernichtet er. Oh ja: Mutter aller Bomben und Heiliger Krieg.

Man muss es nicht Ur-Faschismus nennen. Eco analysiert ja nur, woraus sich der Faschismus zusammensetzt. Der bedient sich ja im schon vorhandenen Gemüseladen und bastelt sich sein Welt-Bild zurecht. Gerade weil die einzelnen Bauteile den Bürgern so vertraut vorkommen, weil auch andere sie benutzen, kann das rechte Denken Fuß fassen in einer Gesellschaft und Anhänger gewinnen. Und vor allem die Barrieren senken, denn wenn das Eine erst einmal etabliert ist, kann man das Nächste in den Mainstream drücken.

Zu richtigem Faschismus wird das alles, wenn systematisch daran gearbeitet wird, mit diesen Bausteinen die eigentliche und zuvor freie Gesellschaft zu ersetzen.

Und wenn eine Gesellschaft sowieso schon in Armageddon-Stimmung ist, kann man mit den entfesselten Gefühlen, die kein Ziel und keine Vision mehr kennen, regelrecht spielen. Die lethargischen und zumeist tatenarmen Bürger werden zur Schwungmasse für neue Führer, die „wissen, wo’s langgeht“ und sich gar als Retter inszenieren – vor denen da draußen oder denen da oben.

Wohin aber führt dieses Armageddon-Denken verbunden mit der Glorifizierung des (einsamen) Helden? – Innerhalb des Faschismus zu einem Todeskult, wie nicht nur Eco feststellte, sondern auch Stanislaw Lem. Er kennt ja keine anderen Lösungen. Alles bündelt sich in „Endkampf“ und „Endsieg“. Das Ding führt zwangsläufig in die Katastrophe, weil aller Frieden, der nach einem möglichen „Endsieg“ käme, dem Wesen des Faschismus völlig widerspricht (Eco). Frieden hält er gar nicht aus. Auch der Proto-Faschismus nicht. Er braucht lauter „Feinde“, um seine Existenz zu rechtfertigen. Also lauter „böse Mächte“.

Wie gesagt: Man muss das alles noch nicht Faschismus nennen. Aber man muss wissen, was es anrichtet. Und dass es vor allem eine Mauer im Kopf hat: Es kann über das Jetzt nicht hinausdenken. Es kann sich nicht vorstellen, dass sich Dinge friedlich verändern, Gesellschaften offener, freier, lebendiger und klüger werden. Dass es völlig egal ist, ob der Kerl an der Spitze weiß ist, sich die Haare blondiert oder Röcke trägt, ein Herz hat und Menschen selbst dann noch respektiert … Oh, sorry, nein: Es ist nicht egal.

Denn Männer mit einem chauvinistischen Weltbild gehören nicht mehr in solche Ämter. Dort gehören Menschen hin, die andere Menschen respektieren, egal, wie arm sie sind, wie weiblich, klug oder mexikanisch, tunesisch, afghanisch oder sonstwie.

Das Gegenteil von Faschismus heißt schlichtweg: Respekt.

Da haben nicht nur die Amerikaner was aufzuräumen. Das geht auch uns an.

Die ganze Serie „Nachdenken über …“

In eigener Sache: Lokaler Journalismus in Leipzig sucht Unterstützer

In eigener Sache (Stand Mai 2017): 450 Freikäufer und weiter gehts

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar