Man versteht sie ja irgendwie, all diese Oberstudienräte, Finanz- und Verwaltungsfachwirte, Fachärzte, Apotheker und Diplom-Ingenieure, die die „Erklärung 2018“ unterschrieben haben. Es ist – so formuliert – ein ziemlich elitärer Haufen mit vielen Titeln und vielen Staatskarrieren darunter. Und einem durchaus nachvollziehbaren, aber recht alten Staatsverständnis. Einem, in dem die EU nicht vorkommt. Wahrscheinlich ist auch das Wort konservativ hier fehl am Platz.

Auch wenn die Denkweise zutiefst konservativ ist.

Viel steht eigentlich nicht drin in dieser von den konservativen Vordenkern Broder, Sarrazin, Tellkamp and friends formulierten „Erklärung 2018“, die sie jetzt gern zu einer Petition anschwellen lassen möchten, die dann irgendwie den Bundestag zum Handeln bringt.

Am 15. März wurde die von 34 Erstunterzeichnern unterzeichnete Erklärung veröffentlicht. Der Text ist relativ überschaubar: „Nachdem sich XXX.XXX Menschen dem Aufruf angeschlossen haben, fordern wir jetzt die Einsetzung einer Kommission, die der Bundesregierung schnellstmöglich verbindliche Vorschläge unterbreitet, wie die von Recht und Verfassung vorgesehene Kontrolle der Grenzen gegen das illegale Betreten des deutschen Staatsgebietes wiederhergestellt werden kann; der durch die schrankenlose Migration eingetretene Kontrollverlust im Inneren des Landes beendet werden kann; wirksame Hilfe für die tatsächlich von politischer Verfolgung und Krieg Bedrohten organisiert werden kann und wo dies idealerweise geschehen sollte.“

Es erstaunt eher, wie unreflektiert so viele Menschen diese Worthülsen unterzeichnen können. Vielleicht aber auch nicht. Weder ein Hochschulabschluss noch eine Staatslaufbahn verhindern, dass Menschen in gedanklichen Sackgassen enden.

Es geht um Worte. Um Worte, wie sie nicht erst seit 2015 öffentlich gebraucht werden. Worte, die hier anklingen, wenn die Autoren von „schrankenloser Migration“ sprechen. Da klingen die „Masseneinwanderung“ an und die „Flüchtlingsflut“. Da klingt aber auch die fehlende Bereitschaft an, sich wirklich mit den Entwicklungen seit 2011 zu beschäftigen.

Dass die Bereitschaft der Bundesrepublik im Jahr 2015, eine Million Flüchtlinge aufzunehmen, schon eine wirksame Hilfe „für die tatsächlich von politischer Verfolgung und Krieg Bedrohten“ war, wird einfach ignoriert. So wie übrigens in der gesamten Flüchtlingsdiskussion in Deutschland. Der Grundtenor ist sogar recht fatal, denn er betrachtet das, was im Nahen Osten und Afrika passiert, als einen vorübergehenden Moment. Irgendwann würde „das da unten“ wohl aufhören. Deutschland müsse nur irgendwie „wirksame Hilfe organisieren“ – nur augenscheinlich nicht auf eigenem Territorium. Sondern vielleicht so wie die Auffanglager in Nordafrika, in denen man die Menschen, die aus unaushaltbaren Zuständen flüchten, gern festsetzen möchte.

Und dann?

Man merkt schon, dass die „Erklärung 2018“ viel zu kurz gedacht ist. Quasi aus der Perspektive des genervten Bürgers, der „das da“ ganz bestimmt nicht vor seiner Türe haben möchte. Helfen ja – aber bitte woanders.

Dass noch viel mehr Flüchtlinge in der Türkei in riesigen Lagern feststecken – finanziert mit EU-Geldern – kein Wort davon.

Aber auch keines über die Ursachen der Bürgerkriege, die Mitschuld europäischer Staaten, über die unfairen Handelsbeziehungen mit Afrika und die dubiosen Waffengeschäfte mit Kriegsparteien „da unten“.

Nur die Stuben- und Amtszimmerperspektive, dieses bürgerliche Unbehagen, dass die seit 2015 in Deutschland aufgenommenen Menschen für Unruhe sorgen, nicht alle sofort integriert werden können und andere regelrecht austicken, weil ihr Asylgesuch abgelehnt wurde, eine Rückkehr in ein kaputtes Land für sie aber trotzdem ein Albtraum ist …

Was die „Erklärung“ natürlich ausblendet (und auch nicht fordert), ist eine echte Strategie, wie die Bundesrepublik (in welchem Rahmen auch immer) mit den fatalen Folgen falscher Politik im Nahen Osten und Afrika umgehen will. Denn – das wird so gern vergessen: Sie muss damit umgehen. Ob als Schwergewicht in der EU oder in anderen Bündnissen. Denn dass die Menschen nicht nur aus Syrien zu Millionen fliehen, hat zum Teil mit blutigen Herrschern zu tun, aber auch mit zerstörten Wirtschaftsstrukturen. Menschen wandern nicht aus, um irgendwo „illegal einzuwandern“.

Das ist ein falscher und verlogener Topos, der hier verwendet wird. Auch wenn er – rein juristisch – stimmt: Flüchtlinge haben keine Chance, legal in die Bundesrepublik einzuwandern. Es gibt dafür keine Strukturen und nicht einmal ein belastbares Einwanderungsgesetz.

Sie nehmen das vom Grundgesetz gewährte Recht auf Asyl in Anspruch. Und staatliche Behörden entscheiden, ob sie dieses Asyl gewährt bekommen.

Natürlich wird so ein Grundrecht stark beansprucht, wenn die Gründe für die Flucht nicht nach ein, zwei Jahren verschwinden. Der syrische Bürgerkrieg dauert nun schon sieben Jahre. Und kein Staatenbund ist dabei so gelähmt wie die EU. Auch durch solche Bürger, die innenpolitisch Druck aufbauen, der die Regierungen zu Strategien des Einmauerns und Verweigerns zwingt. Man kann mit solchen Stimmungen Politik auch lähmen.

Deswegen ist die „Erklärung“ auch ziemlich dumm, weil sie auch zeigt, dass die Unterzeichner vom Funktionieren von Politik keine Ahnung haben. Augenscheinlich auch nicht haben wollen. Seit dem fatalen Einmarsch der USA und ihrer willigen Freunde 2003 in den Irak steht das Thema auf der Tagesordnung: Wie sieht europäische Außenpolitik eigentlich künftig aus? Wer betreibt und finanziert echtes Statebuilding? Mit welchen Verträgen lassen sich die Staaten Afrikas und des Nahen Osten stabilisieren? Usw.

Das geht alles über diese „Lass-uns-in-Ruhe“-Petition hinaus, die von einem Staatsverständnis ausgeht, wie es vor Gründung der EU gang und gäbe war. Als es noch genügte, dass jede Regierung auf ihrem Staatsgebiet die Sache regelt.

Die „Erklärung“ fordert tatsächlich sehr unverblümt die Herstellung eines eigentlich überwundenen Staatsverständnisses. Und sie erzählt von der Überforderung der Unterzeichner durch eine zunehmende Veränderung der Welt, in der weder Europa noch Deutschland mehr eine Insel sind, unbehelligt von den Folgen des westlichen Wirtschaftens und westlicher Kolonial- und Hegemonialpolitik. Sie wollen nicht wahrhaben, dass die wachsenden Migrationsströme weltweit etwas mit der eigenen, der westlichen Wirtschafts- und Lebensart zu tun haben. Und ein „Weiter so“ eigentlich unmöglich ist.

Egal, wie man es dreht. Erstmals werden die Europäer massiv und direkt mit den Folgen ihrer Ich-Sucht konfrontiert. Und herausgefordert, etwas zu tun, gemeinschaftlich zu handeln. Seit 2012 fiel ihnen dazu nicht mehr als Abschottung ein. Das ist zu billig. Und feige ist es auch noch. Und: Es löst kein einziges dieser wachsenden Probleme. Kein einziges.

Die Probleme unserer Welt sind mittlerweile multiple Probleme. Die mit nationalstaatlichen Alleingängen nicht mehr zu lösen sind.

Mir ist die „Erklärung“ schlicht zu kleinkariert, zu bieder, zu engherzig.

Das bringt es wahrscheinlich auf den Punkt: Hier versammeln sich Menschen, die nicht mehr Ehrgeiz von der Politik fordern, wirklich zukunftsfähige Lösungen für die aufgestauten Probleme der Gegenwart zu suchen, sondern verschont werden wollen mit all dem. All dem, was westliches Wirtschaften aus der Welt gemacht hat und was Millionen Menschen erst zu Migranten gemacht hat. Es ist der Ausdruck des alten, westlichen Egoismus, dem egal ist, was die eigene Art zu Leben mit der Welt da draußen anrichtet – außer, die Menschen von da draußen stehen auf einmal vor der Tür und suchen Hilfe.

Dann aber …

Die ganze Serie „Nachdenken über …“

Nachdenken über … unvereinbare Positionen: Warum alle nur noch Schwarz/Weiß diskutieren und auch Medien lieber Zoff machen als Analyse

Warum alle nur noch Schwarz/Weiß diskutieren und auch Medien lieber Zoff machen als Analyse

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