Unser Leser „Paul“ schickte uns zu unserem Artikel „Die gedankenlose Angst des Wohlstandsbürgers vorm Kontrollverlust“ einen kurzen Leserbrief, der eigentlich ein Kommentar war, ein Aufruf und eine Frage. Denn tatsächlich fragte „Paul“ am Ende, warum die Diskussionen über wichtige Themen in unserem Land derart extrem geworden sind, dass es nur noch zwei Meinungen zu geben scheint – und jede verteufelt die andere: „Falsch!“

Wobei ich natürlich den argen Verdacht habe, dass dieses „Falsch!“ sogar richtig ist. Aber auch das steckt ja irgendwie in diesem Leserbrief.

Der Leserbrief von „Paul“:

Betreff: Wie wäre es mit einem Mittelweg?

Es überrascht mich immer wieder, was in diese Erklärung so alles hineininterpretiert werden kann. Es gibt die, „die Grenzen zu und alle Ausländer raus“ wollen. Und es gibt die, die der Meinung sind, jeder Mensch auf dieser Welt hätte de facto erstmal ein Recht, hierher zu kommen und Asyl zu beantragen (und wenn das abgelehnt wird eben jahrelang dagegen zu klagen, anstelle wieder zu gehen).

Wir brauchen aber einen Weg dazwischen. Einen Weg, der von links, Mitte und rechts gemeinsam erarbeitet und danach akzeptiert werden sollte, weil er aus einem Diskurs entsteht, in dem nicht von vornherein gegenteilige Meinungen als „falsch“ verteufelt werden. Warum ist das nicht möglich in diesem Land?

***

Was wir ja tatsächlich seit geraumer Zeit erleben (und in unseren Beiträgen zu den „social media“ haben wir es auch oft beschrieben) ist ein Phänomen zunehmender Radikalisierung in der öffentlichen Wahrnehmung von Problemen. Medien sind daran nicht ganz unschuldig. In etlichen Häusern gilt bis heute der Arbeitsspruch: „Was Quote bringt, das bringen wir“.

Es sind nun einmal nicht die klugen, ausgewogenen und austarierten Geschichten, die Aufmerksamkeit erregen. Das ist das Thema Aufmerksamkeitsökonomie: Den Platz in der Aufmerksamkeit der meisten Menschen besetzen all die Nachrichten und Geschichten, die für Aufregung sorgen: aufgemotzte Polizeiberichte, Skandale, Randale, Zoff, Terror, Sex, Crime usw. All das Zeug, das auch die Emotionen aufwallen lässt und Menschen quasi sofort zum Reagieren zwingt. Und zum Positionbeziehen.

Und das betrifft eben nicht mehr nur die bunte Boulevard-Seite, die früher mal die letzte Seite in der Zeitung war oder irgendwo im Inneren als „Vermischtes“ erschien, es hat mittlerweile alle – auch die wichtigsten – Diskussionsfelder unserer Gesellschaft erfasst.

Zum Teil hängt es mit der verzweifelten Jagd der Medien nach Quote und Aufmerksamkeit zusammen, so dass sich kaum noch ein Medium der Fast-Food-Berichterstattung über die Aufregerthemen der anderen entziehen kann. Zum Teil ist aber genau das auch das Geschäftsmodell von Medien, die mit der gesteigerten Aufmerksamkeit durch Skandalthemen vor allem Werbung verkaufen wollen. Jeder hält sie für „ganz normale“ Medien, kaum einer sieht die fatalen Auswirkungen dieser Art des Themen-Settings.

Denn diese Themen bestimmen ja dann die Diskussion. Weil alle danach fiebern, halten alle das für WICHTIG.

Beispielhaft erlebbar im TV, wo der Druck zum Skandalisieren und Emotionalisieren durch das Aufkommen der Privatsender anstieg – und mittlerweile die Öffentlich-Rechtlichen dazu gebracht hat, sich genauso zu benehmen. Mit sehr fatalen Folgen, denn alle Fernsehsender zusammen haben mit 60 Prozent die absolute Meinungs(über)macht in Deutschland. Sie formen Stimmungen, machen Themen und Personen groß, sorgen im Grunde für den Filter, der dafür sorgt, dass Themen von den meisten Menschen noch als wichtig wahrgenommen werden – oder eben sang- und klanglos im Dunkeln verschwinden.

Und wer das Phänomen der Talkshows beobachtet hat, weiß, dass dort schon lange nicht mehr sachlich und lösungsorientiert diskutiert wird, sondern meist nach dem Schema: Sieg oder Niederlage.

Es sind Schlagabtausche, Boxkämpfe, ein Haschen um Punkte. Und all diese Formate tendieren natürlich zu einem klassischen Fight, bei dem es scheinbar nur noch zwei Positionen gibt – möglichst weit auseinander und in der Regel völlig unvereinbar. Deswegen wird auch nicht um gemeinsame Lösungen gerungen oder eine komplette und komplexe Sicht auf die Dinge, sondern um „Lufthoheit“: Die Kombattanten versuchen vor laufender Kamera besonders viele Punkte für ihre möglichst simpel und radikal formulierte Position zu sammeln.

Was auch funktioniert. Untersuchungen zu den Fernseh-Duellen von Donald Trump und Hillary Clinton haben ergeben, dass selbst dann, wenn versierte Journalisten Hillary Clinton fachlich als Punktsieger sahen und selbst Zuschauerumfragen Hillary Clinton im Vorteil sahen, die Trump-Anhänger völlig der Überzeugung waren, dass ihr Kandidat haushoch gewonnen hatte.

Das heißt: Selbst dann, wenn sich zwei Positionen öffentlich im Diskurs gegenüberstehen, nehmen die Anhänger der jeweiligen Position nur die Argumente der eigenen Seite war – und blenden die der Gegenseite schon deshalb aus, weil sie ja nicht stimmen können. Der Filter sitzt schon im Kopf.

Was aber auch bedeutet: So findet man keine Lösung.

Und die Medien haben trotzdem ihre Schlagzeilen: „Trump hat gewonnen!“ / „Clinton hat gewonnen!“

Das Ergebnis sind dann gelähmte Parlamente und verzweifelte Regierungen, die irgendwie versuchen, beide Extreme irgendwie unter einen Hut zu bekommen. Was natürlich nicht gelingt.

Und: Es tun sich für den Mediennutzer scheinbar völlig extreme Positionen auf. So wie in diesem Fall in der „Flüchtlingsfrage“, wie es „Paul“ zuspitzt: „Es gibt die, „die Grenzen zu und alle Ausländer raus“ wollen. – Und es gibt die, die der Meinung sind, jeder Mensch auf dieser Welt hätte de facto erstmal ein Recht, hierher zu kommen und Asyl zu beantragen (und wenn das abgelehnt wird eben jahrelang dagegen zu klagen, anstelle wieder zu gehen).“

Das sind beides Minderheitenpositionen, mal grob geschätzt 13 Prozent hier und 13 Prozent da.

Aber der Blick in die Medienberichterstattung zeigt auch: Der ganze Rest möglicher Positionen kommt nicht vor. Die Medien lieben scheinbar diese Radikalisierungen. Das gibt Zunder, alle ärgern sich, alle schreien und wüten, die „social media“ geraten ins Kochen.

Ich halte es für möglich, dass gerade die Vertreter dieser beiden Extrempositionen nie im Leben miteinander um eine Lösung ringen werden.

Und der Rest?

Der kommt nicht vor. Das ganze Geschrei sorgt dafür, dass rationalere Lösungsansätze keinen Platz in der Berichterstattung finden.

Der schlimmste Teil dabei: Die völlig fehlende Diskussion über ein modernes Einwanderungsgesetz. Die meisten Verantwortlichen in der deutschen Politik wissen seit 25 Jahren, dass wir eins brauchen, eines, das klar regelt, welche Art Zuwanderung wir möchten. Das ist die Zuwanderung, die wir zum Teil längst haben. Aber es gibt Zuwanderer mit völlig unterschiedlichen Chancen – EU-Bürger sind die absolut Privilegierten. Sie dürfen ohne jede Barriere einwandern. Einwanderer aus anderen führenden Industrienationen müssen schon einige Hürden überwinden, haben aber meist kaum Qualifikations- oder Sprachbarrieren.

Und dann kommt man zu den vielen anderen Menschen aus aller Welt, deren Zuwanderung die EU und Deutschland sehr restriktiv handhaben. Mal gibt es Blue Cards, mal Green Cards – alles eher tröpfchenweise zugewiesen, weil schon beim ersten Aussprechen die deutschen Heulbojen angehen, die aus all den Ländern im dunkleren Teil der Welt nur schreckliche Unkultur erwarten.

Ein Ergebnis: Menschen aus diesem Teil der Welt haben über ein rationales Zuwanderungsrecht kaum Chancen, nach Europa zu kommen.

Da kommt der Aspekt mit „Grenzen dicht, keiner mehr rein“. Aber da können dann die Statistiker sehr schön ausrechnen, wann Europa dann schlichtweg vergreist und ausstirbt. Denn ein Rezept, wie die unterirdischen Geburtenzahlen wieder gehoben werden sollen, sehe ich nirgendwo. Was möglicherweise dieselben Gründe hat. Wir leben in einer kontrollsüchtigen und regulationswütigen Gesellschaft.

Und hier steckt auch die fortgesetzte Falschdarstellung, wir hätten es mit der Flüchtlingsaufnahme seit 2015 mit Zuwanderung zu tun. Haben wir aber nicht. Fast alle diese Menschen (auch die meisten abgelehnten) haben handfeste Fluchtgründe. Aber nicht jeder Fluchtgrund wird als Asylgrund anerkannt. Dass auch die abgelehnten Asylbewerber durchaus echte Fluchtgründe haben, zeigt schon das zähe Suchen nach „sicheren Herkunftsländern“. Denn eigentlich sind Abschiebungen nur in Länder human, die tatsächlich friedlich, stabil und sicher sind. Dass die Bundesregierung ausgerechnet Afghanistan und Syrien nur zu gern als „sichere Herkunftsländer“ einstufen möchte, gehört zu den Peinlichkeiten der Zeit.

Die Regierung selbst sorgt dafür, dass die Grenzen verwischen und die Menschen, die in Deutschland Asyl beantragt haben, in Grauzonen verschwinden. Das ist dann Futter für all die, die „die Grenzen dicht“ haben wollen. Aber rational ist es nicht. Und ehrlich ist es auch nicht.

Aber man merkt schon, dass das Thema an der Stelle komplexer wird. Und dass die von „Paul“ genannten Positionen falsche Extreme sind. Sie vermischen Zuwanderung mit Asylrecht. Aber genau das dominiert die Diskussion heute. Bis in die politische Spitzenebene. Wenn ein Bundesinnenminister mal wieder vom Islam schwafelt, „der nicht zu Deutschland gehört“, dann macht er so beiläufig auch deutlich, dass in seinem Kopf eine (nicht vollendete) Diskussion über Zuwanderung völlig durcheinandergeht mit einer nicht verstandenen Asylpolitik. So sehen dann auch seine ersten politischen Vorschläge aus.

An die Stelle ungeklärter Vorstellungen, was ein modernes Deutschland eigentlich sein kann und sein sollte, ist ein dummes Geschwätz über Muslime, Obergrenzen und ähnlichen Klamauk getreten, der Deutschland wie eine Schafherde betrachtet, in der alle Schafe weiß zu sein haben und „Mäh“ zu blöken haben.

Man merkt schon: Das Thema ist viel größer als das heute übliche Geblöke. Und bevor keine ernsthafte Diskussion über ein modernes Zuwanderungsgesetz begonnen hat, kann man eigentlich nur erwarten, dass alles immer wieder durcheinandergeworfen wird und niemand wirklich weiß, wer gerade über was redet.

Aber wenn keiner weiß, worüber geredet wird, gehören die Schlagzeilen logischerweise den Radikalen.

Die Serie „Nachdenken über …“

Die gedankenlose Angst des Wohlstandsbürgers vorm Kontrollverlust

Die gedankenlose Angst des Wohlstandsbürgers vorm Kontrollverlust

 

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