LEIPZIGER ZEITUNG/ Auszug Ausgabe 86, seit 18. Dezember 2020 im HandelEine kleine Präzisierung muss ich unbedingt vorausschicken: Bei meinem Traum, den ich gern mit den Leserinnen und Lesern der Leipziger Zeitung (LZ) teilen möchte, handelt es sich keineswegs um das sanft im Unterbewusstsein wallende Nebenprodukt eines süßen Schlummers – so erholsam das gelegentlich auch wirken mag – sondern um ein realitätsgesättigtes Gedankenspiel.

Aber etwas anderes hat von einem wachen Zeitgenossen mit einer gefestigten materialistischen Weltanschauung sicher auch niemand erwartet. Und damit sind wir mittendrin, und beim geläufigen Allgemeinplatz, dass die Welt in Unordnung ist, müssen wir uns nicht lange aufhalten.

Sie ist ja erkennbar noch unordentlicher geworden – die Welt – in den vergangenen zwölf Monaten. Die Umstände pressieren. Wenn sich an der bedenklichen Situation, die ein winziges Virus in der gesamten planetaren Gemeinschaft und ihren wechselseitigen Verflechtungen verursacht hat, in überschaubarer Zeit nichts bessert, nimmt jeglicher Optimismus Schaden. Also muss zuerst Corona gezähmt und verbannt werden, um wieder Handlungsspielraum zu gewinnen und langfristiger denken und handeln zu können.

Es ist zugleich höchste Zeit, um wachsam zu sein und zu bleiben, damit denjenigen, denen Corona wie eine willkommene Gelegenheit vorkommt, mit dem Verweis auf angebliche „Sachzwänge“ alle neoliberalen Boshaftigkeiten und Zumutungen zu vollenden, wirkmächtig begegnet werden kann. Von einer Gesellschaft, die im Frühjahr ihren neu erkorenen Alltagshelden plakativ oder überzeugt Beifall spendet, erwarte ich im Spätherbst mindestens die materielle Gegenleistung für nachgewiesenermaßen erbrachte besonders verdienstvolle Leistungen der Helden. Das ist kein Traum, sondern die Aufforderung zu konkret gelebter sozialer Gerechtigkeit.

Deshalb nenne ich derlei Erwartung auch gar nicht Traum, sondern Verpflichtung.

Noch stecken wir voll drin in der Coronakrise, da erheben sich aus den finstersten Winkeln der sozialen Grausamkeiten schon wieder Forderungen, so rasch wie möglich zum alten, einseitigen, im Grunde völlig überlebten Wachstumsfetisch zurückzukehren.

Da schwebt mir allerdings etwas ganz anderes vor

Wie wäre es denn, das in diesen Tagen erzwungene Innehalten und den offiziell angeordneten Rückzug in die eigenen respektive angemieteten vier Wände für ein Nachdenken über eine persönlich und gesellschaftlich befreiende Zukunft zu nutzen, in der Ökonomie, Ökologie und der Sozialbereich eine geschickt austarierte Dreieinigkeit bilden? Eine wirklich fortschrittliche Gesellschaft also. Dass sich möglichst viele in dieser wahren Überlebensfrage zu aktivem Mitdenken und Mittun entschließen, kommt meiner Vorstellung von einer lohnenden Perspektive in einer lebenswerten Umwelt und den Wegen zu ihrer Erreichbarkeit bereits sehr nahe.

Brisanz gewinnt eine rechtzeitige Befassung mit tragfähigen Zukunftsentwürfen vor allem im Kontext der Finanzpolitik. Sehr schnell wird sich zeigen, dass die Frage, wie die enormen, auf Pump beschafften und mehr oder weniger durchdacht verteilten Beträge zurückgeholt, folglich auf wen die angeschwollenen Staatsschulden abgewälzt werden sollen. Es darf in dieser Frage zu keiner weiteren Umverteilung von unten nach oben und nicht zu immer weiteren sozialen Ungerechtigkeiten kommen.

Ein Traum? Das hieße eher Ablenkung vom akut Gebotenen

Nicht träumen ist das Gebot der Stunde, sondern handeln – nach durchdachten programmatischen Ansätzen. Doch die Gedankenflüge müssen sich ja nicht unbedingt gleich ins Globale oder Gesamtstaatliche aufschwingen, um wirkmächtig zu sein oder zu werden. Es liegen genug Probleme, die wir anpacken müssen, gleich vor unserer Haustür. Vor lauter Corona und dem notwendigen Pragmatismus im Krisenmanagement scheint fast in Vergessenheit geraten zu sein, dass die Leipzigerinnen und Leipziger doch vor knapper Jahresfrist erst ihr Stadtoberhaupt gewählt und im konkreten Fall bestätigt haben.

Das Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 86, Ausgabe Dezember 2020. Foto: Screen LZ

Glaube bitte niemand, damit sei der Fluss der Kommunalpolitik – zumindest bis zur nächsten Wahl – erst einmal in feste, genau vermessene Ufer gezwängt. Im vergangenen Dreivierteljahr haben doch alle erlebt, dass Kindern aus sozial benachteiligten Familien in Bildungsfragen erst recht die Gefahr des Abgehängt-Werdens droht, wenn es zu Hause zum Beispiel am erforderlichen Computer mangelt. Und prekär Beschäftigte rutschten noch schneller in regelrechte Notlagen ab. Und die oft gelobten Mittelständler, denen die Aufgabe zugewiesen ist, das Rückgrat der Leipziger Wirtschaft zu bilden, sahen sich unversehens ihrer weiteren Entwicklung beraubt. Weil ihnen das bequeme Polster fehlt, um plötzliche Schocks auszuhalten.

Und der angespannte Wohnungsmarkt erweckt bestenfalls den Schein einer Besserung. Dabei trägt allein der gebremste Zuzug nach Leipzig zu einer trügerischen Verschnaufpause bei.

Eine nüchterne Betrachtung zeigt, dass Kinderarmut, beschämende Mini-Einkommen, eine dünne wirtschaftliche Basis und ein nur mäßig ausbalancierter Wohnungsmarkt lange vor der Coronakrise für jeden erkennbar waren, der erkennen wollte. Das erbarmungslos eingedrungene Virus und seine Folgen haben wie ein Lackmustest doch nur transparent gemacht, welche Krankheiten das stur durchgezogene Profitsystem schon lange vorher ausgelöst hatte.

Folglich standen die aufgeführten Punkte in allen linken Wahlprogrammen immer an prominenter Stelle. Und sie füllten einen Katalog an festen Zusagen, als das zur Wahl stehende Leipziger Stadtoberhaupt sich angesichts seiner Bedrängnis von der konservativen Flanke her dringend um Zweckbündnisse im fortschrittlichen Kräftespektrum kümmern musste.

Große Herausforderungen der Leipziger Kommunalpolitik blieben vor lauter Corona seit März liegen oder sie wurden nur nachrangig angepackt. Doch wenn sich die Situation hoffentlich langsam entspannt, stehen diese sattsam bekannten Hotspots des Leipziger Alltags umso nachdrücklicher auf der Tagesordnung.

Doch träumt ein allseits beschäftigter, direkt gewählter Bundestagsabgeordneter vor lauter zwingender Sachlogik denn gar nicht? Doch, schon. Von Siegen, die RB Leipzig in der Champions League einfährt, zum Beispiel. Von einer entkrampfteren Stadtgesellschaft, die von sozialem Fortschritt und mehr Gerechtigkeit profitiert.

Oder einfach von einem guten neuen Jahr, an dem sich viele an einer gesunden Umgebung und einer intakten Umwelt erfreuen können. Im Schlaf, so gesund er auch sein mag, lässt sich all das nicht erreichen. Wobei ich wieder am Ausgangspunkt angekommen bin.

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