In Leipzig sind die politischen Fronten rund um den Nahost-Konflikt verhärtet. Auch die Redaktion der Leipziger Zeitung (LZ) setzt sich mit der Frage auseinander, wie eine bestmögliche Berichterstattung über die Lage in Nahost und das Klima vor Ort in Leipzig aussehen kann. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung haben wir ein Interview mit dem Medien- und Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Kai Hafez, der aktuell an der Uni Erfurt lehrt, geführt.

Herr Prof. Dr. Hafez, Sie haben die deutsche Medienlandschaft in Bezug auf Israel, Gaza, das Westjordanland und die umliegenden Staaten nicht nur in den letzten Monaten, sondern seit einer ganzen Weile beobachtet. Können Sie Ihre kurz Eindrücke schildern?

Ich beschäftige mich mit dieser Thematik seit ungefähr 30 Jahren. Im Rahmen von Forschungsarbeiten habe ich die letzten 40 bis 50 Jahre der deutschen Berichterstattung zu Nahost untersucht.

Es lassen sich unterschiedliche Wellen in den letzten Jahrzehnten erkennen. In den 60er Jahren hatten wir in der BRD eine sehr pro-israelifsche Presse und Publizistik. In den 70er und 80er Jahren hat sich das etwas „normalisiert“, in den 90ern gab es sogar eine gewisse pro-palästinensische Haltung im Umfeld des Osloer Friedensprozesses.

Seit ungefähr 20 Jahren sehen wir wieder eine Rückentwicklung zu sehr pro-israelischen Haltungen. Ostdeutschland hat sich bis zur Wende natürlich anders entwickelt, weil vom SED-Staat eine pro-palästinensische Haltung vorgeben war, seitdem aber angeglichen.

Die jetzige Publizistik in Deutschland empfinde ich zumindest in den ersten Monaten nach dem 7. Oktober als sehr einseitig pro-israelisch. Man kann das als eine Art Rückfall in die 60er Jahre betrachten.

Haben Sie eine Erklärung für die „Wellen“ der Berichterstattung in der BRD?

Die Ursachen sind natürlich kompliziert. Vor allem politische Entwicklungen, insbesondere in den 80er und 90er Jahren, hatten einen Einfluss. Durch das sozial-liberale Regierungsbündnis von Willy Brandt und Helmut Schmidt fand in diesen Jahren eine stärkere Annäherung an die palästinensische Seite statt. Der ägyptisch-israelische Friedensschluss wie auch die spätere israelische Invasion im Libanon 1982 und der Osloer Friedensprozess seit 1993 führten zu einer ausgewogeneren westdeutschen Öffentlichkeit, die arabische und israelische Interessen einbezog.

Ich war im Rahmen des Osloer Prozesses selbst in einem Forschungsinstitut aktiv und habe, übrigens mit Hilfe der israelischen Botschaft, Delegationsreisen in die palästinensischen Autonomiegebiete organisiert. Damals wurde Yassir Arafat, der damalige Chef der PLO (Palestine Liberation Organization, Anm. d. Red.) quasi von jeder Industrie- und Handelskammer in Deutschland eingeladen wurde. Ökonomische und politische Prozesse haben also eine Rolle gespielt.

Mit dem Absterben des Osloer Friedensprozesses, der meiner Ansicht nach seit mindestens 25 Jahren tot ist, sind deutsche Medien wieder in eine sehr einseitig pro-israelische Haltung verfallen. Die ist wahrscheinlich historisch bedingt. Vor allem der Holocaust ist hier eine treibende Kraft und dementsprechend die in Deutschland sehr verbreitete Ansicht, dass Deutschland Israel eine unkritische Solidarität als Staatsraison schulde. Diese Position ist zwar nirgendwo in unserer Verfassung festgeschrieben, aber als politische Kultur sehr verbreitet.

Ich würde aber noch zwischen Haltung und Meinung in der Bevölkerung und der politischen Klasse unterscheiden. Die politische Klasse tendiert aus meiner Wahrnehmung deutlich mehr zu Israel als die Bevölkerung, in der auch das Leiden der Palästinenser eine gewisse Solidarität erzeugt.

Wie werden der Staat Israel und die Terrororganisation Hamas aktuell in deutschen Medien dargestellt?

Die Hamas scheint in unseren Medien ein sehr klarer Fall zu sein. Sie wird als Terrororganisation dargestellt, das war nicht immer so, aber jetzt ist dieses Label sicherlich legitim und verdient. Dass die Hamas ursprünglich von Israel als Konkurrenz zur PLO mit aufgebaut wurde und im Laufe der Jahrzehnte immer wieder Angebote gemacht hat, sich mit Israel zu einigen, was Israels Rechte stets abgelehnt hat, ist hier kaum vermittelbar. Die jetzige Radikalisierung disqualifiziert die Organisation nun allerdings auch als Gesprächspartner.

Bei Israel ist es ein bisschen problematischer. Israel wurde zu gewissen Zeiten tatsächlich in den deutschen Medien kritisiert. Ich kann mich erinnern, dass die Proteste gegen die israelische Regierung Netanyahus, in der es ja rechtsextreme Kräfte gibt, vor einigen Jahren sehr deutlich in den Medien benannt wurden. Ich stelle aber eine gewisse Paradoxie fest: Diese Kritik wird nicht in Kriegszeiten transferiert.

Es wird aktuell kaum beachtet, dass in der israelischen Regierung Rechtsextreme Kolitionäre sitzen, die in rassistischer Weise anti-arabisch und anti-muslimisch sind. In vielerlei Hinsicht sind sie ein Pendant zu radikalen Kräften innerhalb der Hamas.

Es geht dann unter, was eigentlich hervorgeholt werden sollte: Dass wir es hier mit einem asymmetrischen Krieg zwischen einer terroristischen Organisation und einem okkupierenden Siedlerstaat zu tun haben, der nach wie vor unrechtmäßig und mit gewaltsamen Mitteln Kontrolle über palästinensische Gebiete ausübt.

Das war auch zuletzt sehr anschaulich: Über die umstrittene Justizreform wurde seit dem 7. Oktober gar nicht mehr berichtet.

Wenn Israel in Gefahr ist, dann gibt es immer starke Solidarisierungreaktionen in weiten Teilen der deutschen Medien und der politischen Klasse. Diese strikte Form einer wirklich kritiklosen Solidarität ist außerhalb der deutschsprachigen Medien kaum anzutreffen. Das findet man in Europa nicht, selbst in den USA gibt es differenziertere Positionen als in den deutschen Medien.

Mittlerweile differenziert sich die deutsche Berichterstattung etwas mehr. Die Antisemitismus-Debatte, die ja wirklich extrem stark war und ist, hat vieles überlagert, meiner Meinung nach auch teils fälschlicherweise. Mit einer Antisemitismus-Brille kann man diesen Konflikt nicht hinreichend verstehen.

Was genau meinen Sie damit?

Antisemitismus ist sicher in arabischen Ländern und in der hiesigen arabischstämmigen Bevölkerung verbreitet. Dazu gibt es wissenschaftliche Daten. Aber es handelt sich hier wie gesagt um einen asymmetrischen Krieg und um einen Territorialkampf, der eine lange Geschichte hat.

Antisemitismus gibt es, aber man kann diesen Konflikt nicht als „arabischen Rassismus“ labeln. Der „arabische Rassismus“ ist nicht der Urprung dieses Konflikts, genauso wenig wie es der israelische Rassismus gegenüber den Arabern ist.

In der jetzigen israelischen Regierung sitzen Menschen wie Itamar Ben-Gvir (Vorsitzender der Partei Otzma Yehudit und Knesset-Abgeordneter, Anm. d. Red.), der viel extremere Dinge äußert als alle Palästinenser, die ich kenne. Er hat als junger Mann die Ermordung von Jitzchak Rabin (Israelischer Ministerpräsident während des Osloer Friedensprozesses, Anm. d. Red.) gutgeheißen. Es gibt Urteile in Israel gegen ihn, die ihn als Terroristen kennzeichneten.

Aus seiner Partei sind Äußerungen bekannt, die Araber als Monster bezeichnen. Es wurde sogar darüber spekuliert, auf Gaza eine Atombombe zu werfen. Premier Netayahu hat diese Ultra-Extremisten in seine Regierung geholt.

Diese Rassismen mögen Teil des Konflikts sein, aber die Interessenkollision des Konflikts reicht weit über radikale Gruppen hinaus. Zwei Völker streiten seit circa 100 Jahren um ein und dasselbe Territorium, die Vereinten Nationen können sich nicht durchsetzen und es herrscht das Recht des Stärkeren, also Israel. Solange wir keine Aushandlung und Neuverteilung der Territorien hinbekommen, wird sich dieser Konflikt nicht lösen.

Das heißt nicht, dass ich die Bekämpfung von Antisemitismus nicht wichtig finde. Ich habe selbst schon Konferenzen mit den Zentralräten der Juden und der Muslime organisiert. Aber es macht den Anschein, als wolle man durch die Antisemitismus-Debatte Kritik von Israel fernhalten und das finde ich nicht legitim.

Also würden Sie sagen, dass man da besser differenzieren sollte?

Antisemitismus und Israel-Kritik muss voneinander getrennt werden. Antisemitismus ist eine generelle Haltung gegenüber Juden oder die Aberkennung des Existenzrechts Israels. Kritik an der Regierung Israels muss aber möglich sein. Natürlich darf man nicht nur Israel kritisieren, die Palästinenser haben viele Fehler gemacht. Es ist aber absolut legitim, sich gegen eine Regierung zu äußern, die einen Krieg führt, in dem nun mittlerweile mehr als 30.000 Menschen gestorben sind. Das hat erstmal nichts mit Antisemitismus zu tun.

Gleichzeitig kritisiere ich selbstverständlich das Terrorattentat der Hamas. Man muss beide Seiten kritisieren können und zur Besinnung ermahnen können, ohne als antisemitisch bezeichnet zu werden.

Pro-palästinensischen Gruppen wird aktuell schnell Antisemitismus vorgeworfen. Wie ist da ihr Blickwinkel?

Ich habe den Eindruck, dass pro-palästinensische Gruppen in Deutschland in einem Niemandsland operieren. Entweder werden sie unter dem Antisemitismus-Vorwurf abgelehnt oder in der Debatte um den Gaza-Krieg einfach ignoriert. Auch die Bilder palästinensischer Opfer werden hier kaum gezeigt. Die Präsenz der palästinensischen Position in der deutschen Öffentlichkeit ist aus meiner Sicht komplett unterentwickelt.

Allein im Vergleich mit anderen europäischen Ländern liegt ein starkes Ungleichgewicht vor. Verlautbarungen der israelischen Regierung werden regelmäßig in deutschen Medien kolportiert, obwohl im Grunde jeder Konfliktforscher sagen wird, dass staatliche Stellen aller Ländern in Kriegszeiten reine Propaganda betreiben.

Bei den Palästinensern ist man sich über den Charakter der Repräsentation einfach im Unklaren. Man will – zu Recht – keine Hamas-Propaganda verbreiten. Gleichzeitig werden andere palästinensische Positionen und kritische Positionen gegenüber Israel meiner Ansicht nach viel zu wenig beleuchtet.

Die ganz überwiegende Zahl pro-palästinensischer Demonstrierender äußert sich nicht antisemitisch. Sie demonstrieren friedlich und werden zu Unrecht stigmatisiert. In Deutschland sind Demonstrationen verboten worden. Das ist aus meiner Sicht falsch. Wenn man gegen die Versammlungsfreiheit zu radikal im Sinne Israels vorgeht, dann ist das ein Eingriff in die Meinungsfreiheit und in die Grundrechte. Deutschland steht dafür auch international in der Kritik.

Was wir hier machen, wird nicht nur in arabischen Ländern, sondern im gesamten globalen Süden beobachtet und häufig als extrem einseitig empfunden.

Kleine Anlässe für den Antisemitismus-Vorwurf werden in Deutschland sehr groß gemacht und dann sinkt die Bereitschaft, sich mit den berechtigten Positionen von pro-palästinensischen Aktivisten auseinanderzusetzen. Das ist eine Verweigerung eines Dialogs und ich finde das extrem schade.

Für mich ist das Erbe des Holocausts eine menschenrechtliche Position, die mit den Worten Alfred Grossers besagt, dass wir das „Leiden der anderen“ verstehen und in unsere Rechnung einbeziehen müssen. Bedingungslose Treue gegenüber der Kriegspolitik Israels wird dem Andenken an den Holocaust nicht gerecht.

Ich selbst habe in keinem anderen Themenfeld bisher so eine starke Polarisierung erlebt, allein was die Begriffe angeht: Schreibe ich „Genozid“ oder „Apartheidsstaat“ oder schreibe ich von einem „Krieg“? Wie kann man als Journalist*in damit umgehen, wenn jedes Wort schon eine Haltung ausdrückt?

Als Wissenschaftler würde ich sagen, dass wir diese Begriffe differenziert gebrauchen müssen. Ich würde immer von „Elementen von Genozid, Apartheid, etc.“ sprechen. Israel ist kein 100-prozentiger Apartheidsstaat und was dort stattfindet ist völkerrechtlich auch kein kompletter Genozid, aber es hat Anteile davon. Es gibt in der Debatte noch ganz andere, problematischere Begriffe.

In der Wissenschaft wird Israel zum Teil „Staatsterror“ vorgeworfen, also im Sinne der Staatsverteidigung unnötige Gewaltdelikte an Zivilisten. Aber wir müssen auch hier genau erklären, was damit gemeint ist.

Als Wissenschaftler sind wir es gewohnt, Begriffe zu definieren, anstatt sie als Label irgendwo draufzukleben. Wir haben im Moment einen Krieg der Worte und das verhindert eine sachliche Debatte. Im Nahostkonflikt geht es nur scheinbar um Terror versus Genozid. Die Wahrheit ist aber komplizierter.

Vermeiden sollten wir die Worte deswegen nicht, denn es gibt zum Beispiel ein legitimes Nachdenken darüber, ob in Israel Elemente von Apartheid existieren, nämlich die systematische Unterdrückung eine bestimmten arabischstämmigen Bevölkerungsteils, der nicht mit den jüdischen Bürgerinnen und Bürgern gleichberechtigt ist.

Oft fehlt im Tagesjournalismus die Zeit, sich ganz ausführlich mit etwas zu beschäftigen, zum Beispiel mit der Geschichte Palästinas und Israels, vielleicht auch dem Genozidbegriff an sich. Man verlässt sich auf Pressemitteilungen und gewohnte Quellen. Was müsste sich Ihrer Meinung nach an der Arbeit von Redaktionen ändern?

Ich verwende immer den Begriff des „Friedensjournalismus“. Das ist ein wissenschaftliches Konzept, das eine Umstellung der Kriegsberichterstattung vorschlägt. Im Kern geht es darum, nicht mehr nur über Tote und Getötete zu berichten, sondern perspektivisch Lösungsansätze zu debattieren.

Zum Ersten werden meiner Ansicht nach zu viele staatliche israelische Quellen verwendet, die häufig ungesichert sind. Dadurch wird viel Desinformation weitergegeben. Zum Zweiten brauchen wir ein sogenanntes „Friedensklima“, das heißt, dass Journalismus emotionsfrei und rational agieren muss, anstatt durch moralisierende Meinungsmache zu einer Aufheizung des Konflikts beizutragen, beispielsweise durch hysterische Antisemitismus-Zuschreibungen.

Als Drittes lässt sich hinzufügen, dass Lösungsansätze aufgezeigt werden müssen. Es gibt in Expert*innenkreisen Pläne zur Lösung des Israel-Palästina-Konflikts, zum Beispiel Ausgleichsflächen für israelische Siedlungen. Wissenschaftlich sind wir da deutlich weiter, als es in der Öffentlichkeit den Anschein hat. Diese Informationen werden aber kaum ins Blatt gehoben.

Politische Kreise sind aktuell zu wenig anderem als gegenseitigen Schuldzuschreibungen in der Lage. Der Friedensjournalismus sollte über diese Polarisierungen hinausblicken und das sehe ich in Deutschland kaum.

Natürlich verstehe ich, dass der heutige Journalismus oft wenig Zeit-, Geld- und Recherchemöglichkeiten hat. Dies bedeutet aber nicht, dass man sich damit abfinden muss. Wo bleibt der Ruf nach Reformen? Tagesaktuelle Berichterstattung mit Hilfe staatlicher Fake News ist nicht zielführend.

Manchmal wäre eine grundsätzliche Beschäftigung mit Geschichte und Hintergründen des Nahostkonflikts zur Orientierung von Lesern und Leserinnnen wichtiger, als das beständige Bombardement mit politischer Polarisierung.

Sie haben schon angesprochen, dass die Berichterstattung in Deutschland sich sehr im internationalen Vergleich unterscheidet. Welche konkreten Unterschiede stellen Sie fest?

Ich fange mal mit einem positiven Beispiel aus dem europäischen Kontext an, dem britischen „Guardian“ als eher liberales Medium. Dort findet man vehemente Forderungen nach einem Waffenstillstand und palästinensische Opfer werden klar beim Namen genannt. Ich habe auch Bilder von palästinensischen Opfern im „Guardian“ gesehen, die ich so aus Deutschland gar nicht kenne. Das ist sehr nah an einer friedensjournalistischen Ausprägung.

In den USA ist das schwieriger, weil die Parteien Israel eher nah sind. Das macht sich medial bemerkbar. Aber auf CNN findet sich zum Beispiel auch Bernie Sanders von den Demokraten, der fordert, keine Waffen mehr an Netanyahu zu liefern. Insgesamt ist die palästinensisch-israelische Bilanz dort ausgeglichener.

Arabische Medien sind in vielerlei Hinsicht ein Gegenstück zu deutschen Medien. Wo deutsche Medien zu pro-israelisch sind, sind arabische Medien zu pro-palästinensisch, auch wenn es hier klare Unterschiede gibt. Es gibt Hamas-nahe Medien wie „Al-Jazeera“ aus Qatar, auch wenn diese den Terror selbst nicht billigt. Daneben gibt es saudisch finanzierte Medien, die eine größere Distanz zur Hamas wahren.

Eigentlich bräuchten wir überall eine ausgewogene Berichterstattung und eine informierte Öffentlichkeit. Die deutschen Medien müssten hier einen Diskurs- und Perspektivwechsel hinbekommen. Ob das im Moment noch funktioniert, weiß ich nicht. Alle Journalisten und Wissenschaftler, die ich kenne, sind sich einig, dass man diese Einseitigkeit von Medien und Politik in Deutschland nicht erwartet und lange nicht so erlebt hat.

Ich bin nicht der Einzige, dem das auffällt, aber einer der wenigen, die es laut sagen. Es gibt tatsächlich Hemmungen in der Kollegenschaft, sich zu dieser Frage zu äußern, weil man schnell in den Antisemitismusverdacht gerät.

Sie haben in anderen Interviews gesagt, dass die Auseinandersetzung mit einseitiger Berichterstattung im Kontext von Nahost oft bei medieninterner Kritik bleibt, sich aber an der konkreten Arbeit der Redaktionen nichts verändert. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Auslandsberichterstattung in Deutschland wird in Deutschland immer mehr eine Restgröße, wie auch eine neue Studie zeigt. Es gibt immer weniger ausländische Korrespondenten, es wird kaum noch investiert. Dadurch entstehen in vielen Bereichen Defizite, auch in Nahost-, Asien- oder Afrika- Berichterstattung. Diese Regionen interessieren nur, wenn es Krisen oder Konflikte gibt. In Asien steht die ökonomische Berichterstattung im Vordergrund und nicht die politische.

Der frühere Intendant des WDR, Fritz Pleitgen, sagte einmal sinngemäß zu mir: „Auslandsberichterstattung interessiert hier doch keinen.“ Wenn zu geringes Interesse beziehungsweise Einschaltquoten und Verkaufszahlen im Vordergrund stehen, dann kommen wir hier natürlich nicht weiter. Von der Seite der politischen Bildung her bräuchte es internationale Berichterstattung über mehr Länder, mehr Themen und deutlich kontinuierlicher.

Über 80 Prozent der TV-Berichterstattung über Islamthemen besteht aus negativen Themen wie Terror oder Frauenunterdrückung. Diese Probleme gibt es natürlich, aber hier müsste eigentlich eine Diversifizierung stattfinden. Aber Fehlanzeige! Es tut sich nichts. Reformstau. In den Chefredaktionen und Verlagen gibt es kaum ein Bewusstsein für diese Defizite.

Redaktionen sind zudem zu wenig divers zusammengesetzt, wenige Personen mit Migrationshintergrund oder Fachkompetenz werden eingestellt. In den Redaktionen herrscht eine zu starke Gewöhnung an die ewig gleichen Themen und Sichtweisen vor. Ein innovativer Friedensjournalismus hat hier kaum eine Chance. Hinzu kommen Mängel in der Ausbildung und geringe Sprachkompetenzen.

Viele deutsche Redaktionen können zum Beispiel gar keine anderssprachigen Medien lesen oder kennen sich gar nicht genug aus, um etwa über den Ramadan als kulturellen Brauch zu berichten.

Man könnte und sollte der deutschen Bevölkerung die Angst vor dem Orient nehmen. Der Rechtspopulismus speist sich zum Teil aus dem Feindbild Islam und das finde ich sehr gefährlich. Es findet eine Politisierung dieses Feindbilds für innen- und außenpolitische Zwecke statt. Ein renommierter Kollege, der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz, hat mal gesagt, dass Islamfeindlichkeit schlecht für unsere Demokratie ist und ich denke an so einem Punkt sind wir momentan.

Wie ist bisher die öffentliche Resonanz auf Ihre Kritik?

Ich bin aktuell eine Minderheitenmeinung in der deutschen Publizistik, aber ich werde akzeptiert. Ich bekomme fast keine negative Resonanz. Ich denke, dass das auch damit zusammenhängt, Kritik differenziert genug zu äußern. Das bestätigt mich darin, dass wir aus den polemischen Ansätzen herauskommen müssen.

Was kann eine Lokalzeitung wie die Leipziger Zeitung aus Ihrer Forschung lernen?

Man muss die Nahost-Berichterstattung nicht neu erfinden, aber ein bisschen geschichtlicher Kontext wäre gut. Man kann mit Aktivisten von allen Seiten sprechen und echte Dialoge führen. Lokalmedien agieren in dem Bereich sehr unterschiedlich und es hängt oft von einzelnen Redakteuren ab, die da einen positiven Unterschied machen können. Die Aufgabe liegt nicht darin, jeden Tag über den Frontverlauf zu berichten, sondern eher einen lokalen Gesellschaftsdialog über einen internationalen Konflikt herzustellen.

Zum Interviewpartner: Kai Hafez, geboren 1964, ist ein deutscher Politik- und Medienwissenschaftler und Professor an der Universität Erfurt. Er forscht insbesondere zu kulturvergleichender Medienethik, Medien und Politik in Deutschland und in dem Nahen Osten, Migrationsprozesse in den Medien, sowie Auslandsberichterstattung. Hafez ist Mitglied des „Rats für Migration e.V.“, einem bundesweiten Zusammenschluss von Wissenschaftler*innen, die zu Migration und Integration forschen.

2020 wurde er in den „Unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit (UEM)“ des Bundesinnenministeriums berufen. 1999  initiierte und organisierte er die Tagung des Deutschen Orient-Instituts, des Zentralrates der Juden in Deutschland, des Zentralrates des Muslims in Deutschland und der Katholischen Akademie Hamburg.

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