Dass durch die Erfindung der Bildmaschine die über Jahrtausend gewachsene, schwer und unter schmerzhaften Verlusten erlernte Fähigkeit menschenspezifischer Aufmerksamkeit allmählich zermürbt wird und eine Umkehr der humanoiden Wiederholungslogik einsetzt, wurde in den ersten beiden vorherigen Teilen (03, 04/2014) des Artikels ausführlich beschrieben. Um dem Prinzip der Wiederholung gerecht zu werden, sei in der Folge nochmals kurz umrissen, wie maßgeblich Rituale an der Kulturbildung mitgewirkt haben.

Durch die vielen Wiederholungspraktiken, besser Rituale, ist der Mensch erst zum Menschen geworden und hat gelernt, seine Aufmerksamkeit mit anderen zu teilen und so eine Gemeinschaft zu bilden. In dieser Gemeinschaft sind die sakralen Rituale über die Jahrtausende profan geworden. Ihr sakraler Ursprung haftet ihnen allerdings unauslöschlich an.

Der traumatische Wiederholungszwang, Ausdruck des Willens durch Wiederholung über die Wiederholung hinauszugelangen, ist in diesem Zusammenhang nicht nur Nervenzerrütter, sondern auch Kulturstifter. Aus der anfänglichen Not wurde eine Tugend. Durch die Wiederholung (zurückholen und nochmal durchleben) im Ritual konnte und kann ebenfalls Sicherheit entstehen. Was mit dem Menschenopfer seinen blutrünstigen Anfang nahm, findet seinen temperierten Ausdruck beispielsweise im rituellen Raum der Fußballstadien oder im Opferstock der Kirchen.

Aber auch in der Schule sind Rituale fester Bestandteil des Alltags. Angefangen beim Pausenklingeln über das gemeinsame Begrüßen und andere Gesten und Codes entsteht hier eine Aufmerksamkeitsgemeinschaft, die durch das audiovisuelle Störfeuer der Bildmaschine zunehmend vom Verfall bedroht ist. Die Krise der Aufmerksamkeit zeigt sich in erhöhtem Maße in den Bildungseinrichtungen der von Hochtechnologie durchdrungenen Welt.

Gründe dafür gibt es genug, meint Prof. Dr. Christoph Türcke, sodass er vorschlägt, ein Fach namens Ritualkunde einzuführen. Denn die Aufgabe von Schule sei es, die Kräfte gegen das grassierende Aufmerksamkeitsdefizit zu sammeln und strukturell zu festigen.
Einen großen Anteil daran leisten Rituale. Sie sind es, die durch das stetige Wiederholen ihrer Abläufe dem Kind helfen, sich selbst zu regulieren und im Alltag zu bestehen. Dort, wo rituelles Handeln nicht erlernt wurde, ist die Möglichkeit defizitärer Aufmerksamkeit höher. Dass dieses Lernen nicht erst in der Schule beginnen kann und muss, sollte Jedem klar sein.

Über das Elternhaus und den Kindergarten sollten bereits “Vorleistungen” erbracht werden, die in der Schule gefestigt und später reflektiert werden. In Fällen, in denen dies nicht der Fall ist, kann Schule unterstützend einwirken und als Notwehrmaßnahme gegen die grassierende Aufmerksamkeitsdefizitkultur auftreten, wenn sie sich von der Unterbrechungslogik der Sensation nicht vollends vereinnahmen lässt.

Türcke kritisiert in diesem Zusammenhang den übermäßigen Gebrauch des Methodenwechsels, der sich verselbstständigt haben soll, zur Durchsetzung der filmischen Unterbrechungslogik dient und somit den Unterricht an die Standards der Unterhaltungsmedien anpasse. Das Verschwinden des Lehrermonologs, dem die Kinder mit Interesse folgen wollen, sei Ausdruck der Opferung der Elementarübung Zuhören-Lernen zugunsten des Methodenwechsels, der dadurch selbst zum Unruhestifter wird und das eigene Versagen als Erfolg verkauft.

Ebenso seien die Tages- und Wochenpläne Deregulierungsmaßnahmen und üben laut Türcke unter dem Deckmantel der Bewegungsfreiheit die Praktiken gleitender Arbeitszeit ein. Als erstarrte Hohlform des Rituals fehlt die wiederholende und festigende Rückbindung an die Sprache.

Dieser neue Individualismus habe die innere Unruhe sprunghaft erhöht und seinem Vordringen in den schulischen Bereich sei entgegenzutreten. “Nur solange sie (die Schule) sich gewisse Anachronismen erhält, leistet sie mehr als die Einübung in die Imperative der flexiblen Arbeitswelt.” (S. 86)

Kerstin Popp, Professorin im Bereich der Verhaltensgestörtenpädagogik der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig ist allerdings der Meinung, dass ein differenzierterer Blick auf die Problematik notwendig ist. “Der Wochenplan ist dazu da, dass man individuell und differenziert arbeiten kann,” erklärt Popp. “Strukturlose Wochenpläne, mit ständigen Änderungen und ohne Wiederholungen innerhalb des Planes, sind kontraproduktiv und verstärken die Planlosigkeit,” ergänzt sie.
Die Kinder müssen zu den Plänen hingeführt werden, so dass der Plan ihr eigener wird und somit strukturbildend Hilfe leisten kann. Dass fächerübergreifende Wochenpläne nur schwer durchzusetzen sind, erschwert die Vorgehensweise zusätzlich. Oft gibt es, so Popp, viele Pläne zugleich, dann wieder benutzt ein Lehrer Wochenpläne gar nicht. Das Hin und Her verwirrt mehr, als dass es hilft.

Der Wochenplan müsse als Ritual entwickelt werden, so dass das Kind damit lernen und seine eigenen Fähigkeiten steuern kann. Ebenso biete er viele Möglichkeiten des sozialen Lernens und der Ermutigung und werde den unterschiedlichen Leistungsvermögen der Schüler gerecht. Auch die Möglichkeit der Wochenreflexion sieht Popp gegeben. All das muss allerdings vom Lehrer gesteuert und mit Leben gefüllt werden.

Genau an dieser Stelle sind die Erziehungswissenschaftlerin und der Philosoph gar nicht so weit auseinander. Der ritualkundige Lehrer, so Türcke, muss wissen, wie man Wiederholungsstrukturen im Unterricht einbringt. Damit müsse Ritualkunde zum Brennpunkt der Pädagogik selbst werden. Denn ohne ein tiefes und umfassendes Wissen über die Archäologie des Rituals, die Verlaufsformen archaischer Gemeinschaften und die Logik der Temperierung und Profanierung können Ritualstrukturen durch Lehrer nicht aufgebaut werden.

Rein praktisch vollzieht sich die Einführung von Ritualkunde für Türcke wie folgt: in der Grundschule müssen robuste Wiederholungsstrukturen aufgebaut werden, an die man anknüpfen kann. Dabei denkt Türcke nicht an ein anständiges Fach sondern an eine rituelle Achse, die sämtlichen Unterricht deeskalierend durchzieht. Dafür bedarf es kindlicher, naturwüchsiger Ausdrucksformen, die für Türcke im Märchen, im darbietenden Spiel, im Singen usw. beschlossen liegen. Die Bereitschaft, sich ein solches Grundrepertoire anzueignen und damit auch der eigenen Kindheit ohne Scham eine reflektierende Stimme zu geben, hält Türcke für ein wesentliches Eignungskriterium des angehenden Grundschullehrers. ++

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Das Märchen als Grundbaustein für das Verständnis geschichtlich gewachsener Strukturen und als Zeuge der Veränderbarkeit der Gegenwart sowie die Bibel als Grunddokument, an dem man frei von konfessionellen Bindungen lesen und schreiben lernen kann, klingen wie die Litaneien aus abgelebter Zeit. Und doch steckt etwas Wahres in alledem. Nämlich die Wiederholung. Beide, Märchen und Bibel (auch Lieder), sind aus Wiederholung entstanden, wiederholen selbst und werden wiederholt. Sie sind in diesem Sinne Urtypen kultureller Wiederholung, an denen Wiederholen gelernt werden kann. Einfacher geht es nicht.

Allen, die in diesem Zusammenhang eine zu starke Indoktrination der Schulkinder sehen, denen sei gesagt, dass Kinder Übergangsobjekte brauchen. Eben diese Objekte finden sich im Märchen, aber auch in der Bibel. Gott ist für einen Schüler der Grundschule zu Beginn nicht mehr als ein Wesen aus der Märchenwelt und somit völlig ungefährlich. Auch die Frage, wohin dieser Übergang führt, ist völlig offen.

Nach der ersten Phase dieser Einübung ritueller Strukturen folgt die Zeit, in der die Wiederholungspraktiken in ihre erste Krise geraten. In der Pubertät muss Ritualkunde, so Türcke, umsteuern und neuen Anforderungen gerecht werden. Mittels einer sogenannten Fachkonferenz soll der theatralische Akzent verstetigt werden. In einem bewertungsfreien Rahmen sollen während der performativen Schülerkonferenz erlernte Funktionsweisen bestimmter Sachverhalte erneut rekapituliert werden. Theater und Spiel wären damit nicht länger schulischer Alltag, sondern ein Highlight und somit wiederholende Unterstützung, statt Aufmerksamkeitskiller.

Nach der Transformation der rituellen Achse in eine Konferenzachse soll auf diesem gefestigten Boden Ritualkunde als explizites Fach eingeführt werden, in dem das thematisiert und reflektiert wird, was von Beginn an praktiziert wurde. Der Stoff des Fachs wäre das Wiederholen, Einüben, Ritualisieren und Vorführen selbst.

Türcke plädiert vor diesem Hintergrund für die Zusammenlegung der Fächer Sozialkunde und Ethik/Religion zu einem Fach, der Ritualkunde. Soziale Strukturen, die im Sozialkundeunterricht thematisiert werden, sind nach außen gekehrte Werte, die wiederum in Ethik/Religion im Mittelpunkt stehen. Umgekehrt sind Werte nichts anderes als innerlich sedimentierte Strukturen. Dieser gemeinsame “rituelle Nerv” veranlasst Türcke zu dem kühnen Vorschlag der Zusammenlegung zu einem konfessionslosen Fach, das den konfessionellen Anliegen allerdings näher ist. “Ritualkunde stellt schon von ihrem Anfang her die abstrakte Trennung von sakral und profan grundsätzlich in Frage … Die wechselseitige Durchdringung von Sakralem und Profanem, ebenso wie von Werten und Strukturen, muss zur Kenntnis nehmen, wer sich auf die multikulturelle Gemengelage der Gegenwart ernsthaft einlassen will.” (S. 112-113)

Ohne rituelle Strukturen ist von Erziehung und Schule nichts Gutes zu erwarten, so Türcke. Rituale sind für ihn “Turngeräte der Freiheit”, an denen sich aufgeklärtes Bewusstsein bilden kann, das am Ende den gemeinsamen rituellen Grund menschlicher Gemeinschaft selbst zu reflektieren im Stande ist. Dafür bedarf es fähiger Erzieher, die in die Materie religionsgeschichtlich, ethnologisch und psychoanalytisch eingedrungen sind und gelernt haben, ritualtheoretisch zu analysieren, um auch unbekannte Rituale gemeinsam mit den Schülern entziffern zu können. Selbiges gilt auch für die Erzieher der Erzieher.

Hyperaktiv! Christoph Türcke, CH Beck Verlag 2014, 9,95 Euro

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