"Wenn wir etwas für die europäische Perspektive der Ukraine tun wollen, können wir direkt vor unserer Haustür damit anfangen", sagt der Leipziger Historiker Holger Haugk im zweiten Teil des L-IZ-Interviews im Vorfeld der Fußball-Europameisterschaft 2012. Schließlich bilden Menschen aus dem Ko-Gastgeberland der EM die größte Ausländergruppe in Leipzig.

Zur Person: Der Historiker Holger Haugk war beruflich als ehemaliger Projektleiter des Polnischen Instituts zu Zeiten der Orangenen Revolution eng mit den Entwicklungen in der Ukraine verbunden. Als Büroleiter des Grünen Europabüros Sachsen/Thüringen ist er unter anderem auch Mitarbeiter des Europaabgeordneten Werner Schulz, der im Europäischen Parlament die Ostperspektive der Europäischen Nachbarschaftspolitik bearbeitet. Zudem ist Holger Haugk stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaft für Völkerverständigung e.V. (GfVv), die in Leipzig ihren Sitz im Werk II hat.

Die gemeinsame Ausrichtung der Fußball-Europameisterschaft 2012 in Polen und der Ukraine stellt die Frage nach der europäischen Perspektive des Landes zwischen Bug und Asowschem Meer. Wie würden Sie diese Perspektiven beschreiben?

Ohne Zweifel ist die Ukraine das größte europäische Flächenland, das ganz in Europa liegt. Wenn unter “europäischer Perspektive” aber der EU-Beitritt der Ukraine gemeint ist, kommt es auf den politischen Willen an – innerhalb der EU, aber auch innerhalb der Ukraine.

War der ukrainische Nationalismus der Zwischenkriegszeit und während des Krieges ein guter Schüler seines Hauptfeindes, des polnischen Nationalismus und somit (west-) europäisch geprägt, ist die ukrainische Nachkriegsgesellschaft ein Abkömmling des Sowjetsystems. Und man muss wissen, dass die ukrainische Industrie beispielsweise im Maschinenbau völlig auf Russland orientiert ist. Dasselbe ergibt sich bei der Energieversorgung der Ukraine – der öfters stattfindende Gasstreit mit Russland ist hier ja ein gutes Beispiel, welches der Ukraine vor allem im Winter immer wieder ihre Abhängigkeit vom Osten aufzeigt.

Dies wie auch die postsowjetische Prägung der Gesellschaft zu ignorieren und zu denken, dass man das Land ohne Probleme wie die Staaten Mittelosteuropas in die EU integrieren könnte, wäre töricht, insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt, ob sich die ukrainische Bevölkerung überhaupt mehrheitlich eine EU-Mitgliedschaft wünscht. Trotzdem denke ich, dass die EU im Rahmen der europäischen Nachbarschaftspolitik die Beitrittsperspektive immer offen halten sollte.Was spricht aus EU-Sicht für die Beitrittsperspektive?

Wenn man eine zivilgesellschaftliche Öffnung und Demokratisierung der Ukraine fordert, muss man auch bereit sein, die Ukraine aufzunehmen, wenn das die Bevölkerung demokratisch mehrheitlich will. Letztendlich muss die ukrainische Bevölkerung zunächst selber ihren Weg finden. Die Orangene Revolution ist schnell im ähnlichen korrupten postsowjetischen bürokratischen Sumpf – verbunden mit einem “Raubtierkapitalismus” – erstickt worden wie die Arbeit der Regierungen davor.

Meine Hoffnung liegt hier bei der jungen Generation. Doch dazu muss man dieser auch ermöglichen, Westeuropa kennenzulernen, damit sie nicht nur oft schwerverdientes Geld, sondern auch soziales Kapital mit nach Hause bringt. In Leipzig sind übrigens die größte Ausländergruppe die Ukrainer. Wenn wir also etwas für die “europäische Perspektive” der Ukraine tun wollen, können wir direkt vor unserer Haustür damit anfangen.

Polen und die Ukraine laden zu einem gemeinsamen Fußballfest, und zwischen ihnen verläuft die per definitionem dichte Schengen-Außengrenze. Wie passt das zusammen?

Dies bietet die Chance, diese Grenze gedanklich während der EM einmal ganz zu überwinden unter dem EM-Motto “Creating history TOGETHER”. Und das in der Hoffnung, diese Grenze langfristig einmal genauso überwinden zu können beziehungsweise so durchlässig machen zu können, wie die BRD-DDR-Grenze und die deutsch-polnische Grenze. Dies sollte immer auch die Aufgabe der Europäischen Nachbarschaftspolitik sein.

Wie schätzen Sie allgemein die politische Lage in der Ukraine ein?Ich bin zuversichtlich, dass sich langsam eine zivilgesellschaftliche demokratische Opposition aufbaut, die versucht, ein mehr westlich geprägtes demokratisches Wohlfahrtsstaatsverständnis aufzubauen, welches vor allem auch der persönlichen Integrität frei von Korruption die Tür öffnet. Das ist eben die größte Herausforderung, vor der die Gesellschaft in der Ukraine jetzt steht. Das Regierungslager – hier vor allem die “Partei der Regionen” des Präsidenten Viktor Janukowitsch – aber leider auch Teile der ehemaligen “Orangen” – hier eben auch die rechtsstaatlich zweifelhaft momentan inhaftierte Julia Timoschenko – sehen den Staat mehr oder weniger als korrupten Selbstbedienungsladen in einem ungezügelten Kapitalismus.

Meiner Meinung nach spielt Vitali Klitschko mit seiner Partei “Udar” hierbei keine schlechte Rolle. Diese orientiert sich weder an einem zweifelhaften ausgrenzenden ukrainischen Nationalismus, wie beispielsweise andere Oppositionskräfte vor allem in der Westukraine, noch an dem postsowjetisch geprägten korrupten “Mafiakapitalismus”. Für ihn ist es daher momentan auch schwer, innerhalb der Opposition zum Regierungslager einen eigenen Weg zu finden, der generell mit alten politischen Traditionen der Korruption bricht. Er will jetzt mit seiner Partei “Udar” konsequent allein antreten und sich nur, wenn das absolut sinnvoll ist, mit anderen Oppositionskräften abstimmen. In momentanen Umfragen für die im Oktober stattfindende Parlamentswahl kommt “Udar” auf neun Prozent, was durchaus ein guter Anfang für eine kontinuierliche Entwicklung sein könnte. Generell ist es wohl durchaus möglich, dass die Oppositionsparteien die Parlamentswahl gewinnen könnten, was durchaus notwendig wäre, damit Janukowitsch in der Ukraine nicht völlig eine “gelenkte Demokratie” einführt wie Putin in Russland.

Daher halte ich auch die Forderung, die momentan aus der Politik an die Uefa laut wird, sich klarer gegen Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine auszusprechen, für wichtig. Auch was vor allem die Art und Weise der Inhaftierung von Timoschenko angeht.

Was kann der europäische Fußballverband Uefa hier tun?

Janukowitsch sollte aus der EM kein Kapital für seine korrupte und zweifelhafte Regierungsmannschaft im Hinblick auf die Parlamentswahlen ziehen können. Auch wenn man seiner Regierung zugute halten kann, dass sie durch die stärkere Öffnung hin zu Russland, zuerst durchaus wieder mehr wirtschaftliche Stabilität in das Land brachte, welche aber durch die weltweite Finanzkrise inzwischen wieder aufgeweicht wurde. Die Uefa sollte die Prinzipien des europäischen Aufklärungsegalitarismus hochhalten gegenüber (post-) sowjetischer Autoritätshörigkeit. Letztendlich wird es von der Art und Weise, wie “Europa” in der Ukraine während der EM zu Gast ist, auch abhängen, wie sich das Land politisch weiter entwickelt und wie sich die Gesellschaft weiter demokratisch öffnet.

Wo werden Sie die Spiele der Euro 2012 verfolgen?

Ich werde in der Zeit durch Polen und die Ukraine reisen, aber nicht in die Stadien gehen, sondern die Spiele vor Ort mit den Leuten dort im Public Viewing ansehen und werde mich für die Polen und Ukrainer freuen, wenn ihre Mannschaften so weit als möglich kommen.

www.ukraine-nachrichten.de

Terminhinweis

Sonnabend, 09.06.2012, 20.45 Uhr MESZ
EM-Endrundenspiel Deutschland – Portugal in Lviv

Sonntag, 17.06.2012, 20.45 Uhr MESZ
EM-Endrundenspiel Dänemark – Deutschland in Lviv

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