Wie fühlt sich ein Leo ohne seine schöne Bäckerin, wenn er allein auf Urlaub fährt, weil sie nicht darf? Der Oberbäcker hat's nicht gewollt. Jedes fleißige Händchen wird gebraucht. Und Leo muss wieder allein in die Berge. Unter rasenden Wolken. Urlaubig ist meinereins da gar nicht. So ganz ohne. So alleinig. Achje. Was werden die Kühe sagen? Und die Stieleichen? Wenn's welche gibt. "Fahr nur, Leo. Und schreib mir was."

Küsschen, Schniefchen, Adieuchen. Weg war die große Stadt. Ganz hinten am Horizont schon. Und ein Stein im Bauch. Wenn’s nicht die Burgen gäb …

Burgen bringen Leo noch auf Trab, auch wenn er ungetröstet hinauf muss. Oder hinunter. Denn ein Freund hat gesagt: “Fahr jetzt. Bevor es zu spät ist.” Es könnte sein, nächstes Jahr ist das Tal nicht mehr da und die Selke heißt nicht mehr Selke, sondern Stausee. Leo lebt im Land der Betonierer und Besserbescheidwisser. Es ist hier wie dort. Nur dass die dort Anhalter heißen. Oder Anhaltiner. Das wäre noch rauszukriegen. Aber später.

Der Wind bläst meinereins ins Haar, als ich die Karte entblätter am ersten Tag, weiß ja wunderwas nicht über das neue Stück Welt. Hübsch klein und bunt. So sind die Dörfer hier. Wenn man sie findet. Es ist ein Land auf Abruf. Man baut es Stück für Stück ab. Weil es – wie der gestrenge Buchhalter so sagt – “sich nicht rechnet”. Buchhalter sind ein gefährliches Völkchen, wenn sie Verfügungsgewalt bekommen.

Und so hoppelt der Bus nur kurz und unzufrieden über ein Stückchen Gleis kurz vor Falkenstein. Falkenstein gibt es eigentlich nicht. Genauso wenig wie einen Ort namens Seeland. Durch den bin ich gerade gekommen. Wenn Buchhalter neue Orte erfinden, kommt romantischer Schwachsinn dabei heraus. Früher hieß Seeland mal Hoym, Friedrichsaue, Frose, Nachterstedt und Schadeleben. Hoym ist berühmt wegen der Grafen, Nachterstedt wegen des Erdrutschs im unfertigen Concordia-See. Ruhm hat viele Gesichter. Aber Seeland kennt kein Mensch.

Falkenstein auch nicht. Denn eigentlich heißt es Ermsleben, Endorf, Meisdorf, Neuplatendorf, Pansfelde, Reinstedt und Wieserode. Ein bisschen berühmt ist nur Ermsleben. Wegen eines Burschen namens Gleim, der hier geboren wurde. Wenn den noch jemand kennt. Zu seiner Zeit wurde er mit “Preußischen Kriegsliedern” bekannt. Was zu erwähnen ist. Denn gewissermaßen ist Leo hier wieder mal in Preußen gelandet. Das nicht mehr so heißt. Die Preußen sind auch hier verschwunden. Dafür regieren die Buchhalter. Und es ist Jahrestag unter den wild hinziehenden Wolken: Vor zehn Jahren fuhr hier der letzte Zug von Quedlinburg nach Ballenstedt und Frose. “Weil ein Zugverkehr nicht mehr wirtschaftlich zu betreiben war”, behaupten die Buchhalter.

So etwas sagen sie immer. Und hinterher geht ein Fleckchen Erde den Bach hinunter. Das Selketal war bis dahin ein romantisches und fleißig überfülltes Sommerfleckchen. Man lud seinen Rucksack aus dem Zug, machte große Augen und war da: Endlich wieder Bäume! Lauter Bäume! Und Leute! Und Menschen!

Jetzt wachsen auch Bäume auf den Gleisen.

Die Einzelteile sind zum Glück noch da: Ermsleben, Endorf, Meisdorf usw. Das Wässerchen hinter der Hütte heißt tatsächlich Selke. Ich hätt`s nicht gedacht. Früher hielt ich das mal für ein Märchen, das sich ein Bursche namens Heine ausgedacht hat. Sie wissen schon: Der Knabe, der die Ilse, die Bode und die Selke besungen hat, als wären’s fesche junge Mädchen. Sie wissen schon: “Ich bin die Prinzessin Ilse …”

“Leo!”

Ich zitier ja nur!

Das kann ich also auf der Postkarte nicht schreiben. Daheimgebliebene sind so empfindlich. Also kann Leo beruhigt abbiegen: Heute keine Selke. Morgen vielleicht. Heute einfach mal beschwingten Schrittes auf der “Straße der Romantik” hinüber nach Ballenstedt. Das noch immer so heißt. Was Leo wundert. Wie so Manches. Eben haben noch Hexen seinen Weg begleitet, kleine Hexen auf Schildern: Hexenweg. Jetzt ist der Weg weg. Oder noch da. Wer will das sagen? Ein Schild weist den Wanderer mitten ins Feld: “Gegensteine” steht da.Bin ich natürlich nicht hingegangen. Wenn ich überall hingehen würde, wo mich die Schilder hinschicken, wo käm ich da hin? – Meine Schuhe sind das Wandern noch nicht gewohnt. Geh querfeldein, sagen sie. Wo viele Häuser sind, muss ein Ziel sein.

Und die Gegensteine? – Heißen wohl so, weil sie da herumliegen, wo sie eigentlich nicht hingehören. Auf der anderen Seite. Als Gegengewicht zu den herrlich bebaumten Kronen des Harzes. Oh Wälder hoch! In Leo erhitzt sich eine romantische Ader. Wo er doch auf der Straße der Romantik ist. Dachte er zumindest. Bis vor Kurzem, als er das “t” vermisste. Wie so oft.

Natürlich ist es nur die “Straße der Romanik”, auf der er hier steht, ohne “t”, wie ein Kalb am Wegrand: rechts, links, fürbass? – Fürbass natürlich. Wer nicht weiß, was fürbass ist, wird es auch nicht erklärt verstehen. Außer er mag schräge Wege zwischen Ginster, Kletten und ratzeputz leeren Kirschbäumen. Und Überraschungen, die noch solche sind. Eine bunte Wiese mit Absperrband, damit kein Grasmeister auf die Idee kommt, sie abzuernten. Das sollte mal einer in Leipzig versuchen. Grashalme länger als Zweifuffzich. Und buntes Gewächs darinnen. Wo kämen wir da hin?

Vielleicht zu einem Imker, der seine bunte Bienenburg unter die Kirschbäume gestellt hat. Und zwei Nandus daneben, die Leo angucken, als würden sie ihn kennen. “Links des Wegs oder rechts des Wegs”, fragt er die reich befiederten Vögel. “Klee”, sagt der eine. “Luzerne”, der andere. Man merkt: Es ist ein gut verheiratetes Pärchen. Sie verstehen sich.

Leo wählt Klee und betritt die berühmte Stadt Ballenstedt. Und wird von kleinen gelben Schildern darauf aufmerksam gemacht, dass er hier am Ursprung ist. Ganz am Ursprung. Als die Sachsen noch richtige Sachsen waren und in Niedersachsen wohnten, und in dieser Ecke von Welt die neuen Bundesländer erfunden wurden. Wer’s nicht glaubt, kann nachlesen. Ohne einen gewissen Grafen Esico keine Askanier. Ohne Askanier keine Brandenburger, Anhaltiner und Sachsen. Denn den sächsischen Herzogsstab bekamen die Wettiner ja bekanntlich vom Haus Sachsen-Wittenberg, einem dieser vielen Ausläufer der Askanier.

Ballenstedt ist Esico-Land. An jeder Ecke hängt ein Schild: “Willkommen in Anhalt”. Manchmal auch eins: “800 Jahre Anhalt”. Man darf ruhig durcheinander kommen, denn zu Esicos Zeiten – ungefähr 990 bis 1060 – hieß dieses Fleckchen Erde noch Schwabengau. Die Geschichte stiebt unter Leos Füßen. So mag er das. Mauern, denen man ansieht, dass sie richtig alt sind. “Sind die echt”, fragt er ein vorbeizitterndes Mütterchen. “Die waren schon immer hier”, sagt sie, und zittert weiter. Und Leo bewundert mit Hingabe die alten Stadtmauern von Ballenstedt. Die sind noch alle da, wie er sieht. Nur ein bisschen kürzer, ohne Türme und Schießscharten. So muss eine Stadt aussehen, wenn sie alt ist.

Eigentlich wollte Leo nur mal schauen, ob Ballenstedt auch da steht, wo es auf seiner Karte eingemalt ist. Das ist es wohl. Und nun auf einmal steckt er am Anfang von allem. Warum weiß das keiner? Warum steht kein ordentliches Schild da: Hier wurde 1036 das Land Anhalt gegründet. Auch wenn es so noch nicht hieß. Den Namen bekam es ja erst 1212 – bei einer Erbteilung.

Und das feiern die Anhaltiner. Seltsames Völkchen.

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Geschichte fühlt sich manchmal seltsam an. Aber als Leo die Tempelstraße betritt, spürt er, wie die Geschichte unter seinen Füßen rumort. Vielleicht ist es auch sein Magen. Das weiß er noch nicht. Aber jetzt ist er da. Der Urlaub kann beginnen.

Die erste Karte:

“Mein liebes Schäfchen, ein sehnsuchtsvolles Mäh aus dem Schwabengau. Ich hab jetzt 1.000 Jahre Geschichte vor mir. Ich fürchte mich. Aber morgen verrate ich dir, warum die Anhalter Anhalter heißen, auch wenn sie nicht anhalten, wenn man mit dem Hut winkt. Oder übermorgen. Denn ich weiß da was. Das verrat ich aber noch nicht. Dein innigster Leo.”

Morgen also geht’s weiter. An dieser Stelle.

Ballenstedt, die Wiege Anhalts: www.ballenstedt.de

Am Eingang zum Selketal: www.falkenstein-harz.de

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