LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 82, seit 28. August im HandelEin Kolumnist im Urlaub ist immer noch ein Kolumnist. Ich sitze auf einer Veranda in der Oberpfalz und lausche dem mittäglichen Glockengeläutscrescendo. Das Tal ist voll davon, schließlich sind die Bajuwaren noch durch und durch christlich gesinnt, und damit sie das auch nicht vergessen, hämmern ihnen gleich drei Glockentürme stündlich die Erinnerung daran ins Gedächtnis. Ich für meinethalben verzichte auf den Kirchgang, schließlich müssen Reflektionen zu Papier gebracht werden.

Abgeschnitten bin ich vom Trubel, das Internet ist schwach in diesen Siedeln, und die Entfernung zum Tagesgeschäft ist gleichwohl der Abstandsgewinnung zuträglich. Und aus weiter Ferne sieht man das Gesamtbild deutlicher, sagt man. Oder wie man in Bayern sagt: Schaunmermoal!

Und die Leute im besetzten Haus…

Nach alter Tradition schreitet eine linke Leipziger Gruppe zur Tat und besetzt Ende August ein Haus in der Ludwigstraße. Ach wat, ‘ne Hausbesetzung? Es gibt sie also noch, die etwas aus der Mode gekommene linke Form des Umgangs mit Besitzverhältnissen im städtischen Raum. Besagtes Haus in der Nummer 71 ist seit 20 Jahren verlassen, von seinem Eigentümer ignoriert und heruntergekommen, wie solche Immobilien nun einmal herunterkommen, wenn man in einer Gesellschaft lebt, die das Verkommenlassen zum Zwecke der Profitabilisierung gerne erlaubt.

„Eigentum verpflichtet“, tönt es aus der idealistischen, staatsaffirmierenden Ecke meines politischen Bewusstseins, und heraus kommt nichts als Empörung. Auf dieser niederen Bewusstseinsstufe scheint auch die CDU Leipzig hängengeblieben zu sein, denn diese facebookt tags darauf „Besetzen ist Unrecht!“ und aus welcher Ecke die Unrecht(sstaat)lichkeit immer schon stammt, das soll noch der letzten Leipzigerin klarwerden.

Aus meiner Idealistenecke poltert’s zurück, „Verkommenlassen wegen Geldgeierei wohl nicht?“ und verstummt, denn wer weiß schon im Detail, was der Eigentümer für Gründe hat, sich nicht um das Haus zu kümmern. Man sollte generell keine Bosheit unterstellen, wenn Dummheit als Begründung nicht auszuschließen ist.

Nun also muss das Haus sich den neuen Bewohnerinnen hingeben, was bleibt ihm anderes übrig. Wer will auch dagegenreden, dass in einem toten Haus Leben einkehrt. Denn dieses Leben, das da gemeinsam frühstückt, den ganzen Tag pleniert („Plenum ist wichtig für die Revolutio-hoon“) und abends lokalen Punkbands eine Bühne bietet, ist durchaus in die Bredouille geraten.

Das Viertel im Leipziger Osten herum um die Eisenbahnstraße, nachweislich die „Schlimmste Straße Deutschlands“, ist in der Zange der um sich greifenden Immobilienwut. Häuser, die noch vor 20 Jahren für 10.000 Euro zu erstehen waren, gehen nun weg für 1,5 Millionen. Kein Wunder, dass die Räume eng werden.

Wir erinnern uns: 1984 hatten Helmut Kohl und ebenjene CDU die Macht übernommen und flugs mit den Waffenbrüdern von der FDP beschlossen, den darbenden Immobilienbesitzern das schwere Leben zu erleichtern. Nun konnte die vermietende Klasse endlich ihre Haltungskosten den Mietern in die Nebenkosten einpreisen.

Auch deshalb sei an den PARTEI-Slogan erinnert: Nie wieder CDU! Als die Stadt Leipzig dann in den 2000ern entgegengesetzt zum tendenziellen Bevölkerungswachstum soviel wie möglich ihres städtischen Eigentums an Wohnraum abzustoßen sich auftrug, war das auch nur wieder Ausdruck desselben, neuerdings neoliberal genannten Geistes.

Ihre politische Restvernunft musste die SPD ja bekanntlich schon Ende der 90er an ihren Vorsitzenden und Kanzler übergeben, der sie sogleich im Pfandautomaten entsorgte. So etwas färbt natürlich auch auf amtierende Oberbürgermeister ab.

Zurück in die Jetztzeit: Das ehemals kaputte Leipzig glänzt wie noch nie, eine gelackte Sumpfigkeit durchzieht die oberen Etagen, die sich zufrieden auf dem Immobilienforum zuprosten, während fahrige, altersdemente Volkszeitungs-Redakteure billige O-Töne abgreifen und danach gepflegt beim Buffet zuschlagen. Unterdessen containern sich die Bewohnerinnen ihr Frühstück zusammen und brechen schon wieder geltendes Recht. Der idealistischen Ecke in meinem Bewusstsein wird schwindlig und ich muss mich kurz ablegen.

Unsere Kreise

Einen Kaffee mit Schuss später kommt der Dok-Filmer Dieter Wieland in mein Bewusstsein, während ich in das gut sortierte bayerische Tal blicke, Bagger in der Ferne graben und die Dame vom Nachbarhaus ihre Gartensimulation vor Unordnung bewahrt. Dazu spricht Wieland aus dem Off, „Bayern im Jodlerstil. Früher hats geheißen, jamei, das ist hoalt an Zahnarzt aus Düsseldorf, der kennts net anders. Aber heit, wenns di umschaust, so viel Zahnärzte kanns in Düsseldorf goar net gebn.“

Das Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 82, Ausgabe August 2020. Foto: Screen LZ
Das Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 82, Ausgabe August 2020. Foto: Screen LZ

Während ich mich frage: Warum, Kruzifix, gibt’s so was wie Steingärten und Leute, die ihre Obstbäume jedes Jahr so weit runterschneiden, dass sie bloß kein Obst tragen, denn Fallobst muss man schließlich aufsammeln und wegwerfen, sonst ist der Rasen nicht mehr makellos und was sollen dann die Nachbarn denken?

Da ist es wohl, das big picture – und der Kampf um die Leipziger Freiheit sieht schon wieder ganz anders aus. Während die Genossinnen in dem verfallenen Gehäuse planen und konspirieren, betoniert ein weiterer Bajuware seinen Vorgarten. Natürlich, die Häuser denen die drin wohnen, aber ist es einmal ihnen, schon weht ein Hauch Düsseldorfer Zahnarztduft durch die Luft.

Da lunzt die Kehrwoche schon hinter den Bergen geleerter Weinflaschen hervor und der innere Schwabe wächst und wächst. Die Menschen sind ja keine anderen geworden, denn wie soll schon ein kleines Haus sich in der großen Welt behaupten, eine die von vorn bis hinten den ehernen Bewegungsgesetzen des Kapitals unterworfen ist.

„Wohl niemand ist unseren Kreisen gegenüber kritischer eingestellt als eben unsere Kreise“ – Robert Gernhardt, 1997

Die Überwindung der Spießbürgerlichkeit scheitert erneut an der Wiederbelebung der bürgerlichen Moral. Nicht, dass es zuvor gelungen wäre, durch die Verneinung bourgeoiser Zärtlichkeiten einen dauerhaften Unfrieden mit den Verhältnissen zu etablieren. Bis dato wurde jedes Aufbegehren eingekauft, von der Kulturindustrie freundlich umarmt, hat man sie nackig gemacht und ihre Klamotten in die Kaufhäuser gestellt. Anarchisten-Parka vom Designer aus New York? Das macht dann 5.000 Dollar, bitteschön.

Was soll man also machen, wenn man schon nichts mehr machen kann, ohne zu scheitern? „Weitermachen!“ sagte Marcuse, „Weiterscheitern!“ rufe ich. Jeder Besetzung wohnt eine Räumung inne. Die kleinen Subversalien der Aufständigkeit vermögen weder die vermietende Klasse, noch den Staat zu schrecken. All die schöne Lebenszeit, in den Gemäuern gelassen, bei ungewissem Ausgang.

Aber noch ist es nicht so weit! Jedes ranzige Banner, jede heruntergekommene Fassade, jeder vegane Eintopfsonntag führt uns vor Augen, dass es DAS nun auch nicht sein kann. Um’s Ganze kämpfen, nannte man das, ist nicht lange her. Und wenn Sie nun kommunistische Ideale hinter meinen Reden heraushören, liegen Sie richtig. Sie sehen also, die Missstände zu erkennen, dafür braucht es nur einen kleinen Blick aufs Bayernland.

Hebt Zeigefinger und Daumen zum L geformt an seine Stirn,

Ihr MP in spe a.D.
Tom Rodig

Die neue Leipziger Zeitung Nr. 82: Große Anspannung und Bewegte Bürger

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