Beginnt man "hinten" bei den Fragen der Leipziger rings um Sicherheit, Geld und persönliches Engagement an einem Montag, den 17. November im Haus Auensee, landet man "vorn": Bei den Fragen, die weit wichtiger sind. Wie wird die Leipziger Bevölkerung mit den so oder so ankommenden Flüchtlingen aus Diktaturen, Kriegsgebieten und ihren Geschichten in einer Erstaufnahmeeinrichtung nach 25 Jahren eigener Hast und Veränderung umgehen?

Wo werden die Bruchstellen zwischen menschlicher Solidarität, der eigenen Last in dieser Gesellschaft mit Hauskrediten, Verlustängsten und einem auf Besitz und Eigentum ausgerichteten Leben im Alltag liegen? Der Individualismus ist die Ikone des Kapitalismus und verlangt eigentlich nach möglichst effektiver Abwehr zusätzlicher Lasten. So gesehen, verhalten sich Bürger, welche sich eine Erstaufnahmeeinrichtung weit weg wünschen, scheinbar rational. Doch auf einmal ist wieder Solidarität gefordert.

Auf dem Podium sitzen die, die es in den Augen vieler an dem Abend im Haus Auensee “geschafft haben”. Und von der Frage, eine Erstaufnahmeeinrichtung in der Nachbarschaft zu haben, nicht betroffen sein werden. Ein Staatssekretär, ein ehemaliger sächsischer, aktuell Leipziger Polizeipräsident, eine Abteilungsleiterin der Sächsischen Landesdirektion. Alle ausreichend finanziell versorgt, alle mit der Aufgabe angetreten, es dem Publikum zu erklären, was geschehen könnte oder bereits geschieht. Und ein Vertreter des Malteser Hilfsdienstes, welcher sein Gehalt mit der Unterbringung von Asylsuchenden verdient. Mit Peter Stawowy steht ihnen ein Dresdner Politikberater moderierend zur Seite, der für seine Arbeit ein Honorar erhält, wenn er einschreitet, richtigstellt und einordnet.

Die hörbare Häme, welche an vielen Stellen des Abends aufbrandet, wenn eine Erklärung auf dem Podium nicht ganz richtig ist, wenn sich jemand auf dem Podium verhaspelt und hier und da Schwachstellen unter hohem Erklärungsdruck zeigt, ist Ausdruck der gefühlten Zurücksetzung bei manchen im Publikum. Und ein Lackmustest für die, welche sich gern selbst als politisch befähigt sehen, komplexe Abläufe von Flucht und Vertreibung in Bürgerversammlungen zu erläutern. Oder gar Politik zu machen. Damit ist die Fallhöhe vorgegeben. Für die ökonomische Mitschuld Europas und selbstredend Deutschlands an der Misere rings um Syrien, Eritrea, Afghanistan und eigentlich Gesamtafrika und im mittleren und nahen Osten ist hier am Abend des 17. November im Haus Auensee sehr wenig Zeit.

Zu abstrakt auch das Beispiel von Staatssekretär Dr. Michael Wilhelm von einer Mutter, die auf dramatische Weise ein Kind auf der Flucht verloren hat. Vielleicht nicht zu leisten, vielleicht auch nur vergessen: Flüchtlinge, die mitreden und erzählen könnten, sind nicht vertreten. Eine weitere Begleiterscheinung, welche solche Debatten wie die vom Montag so schwierig machen und so distanziert erscheinen lassen, wenn es nicht nur ums eigene Schicksal gehen müsste: Kriege beginnen offenbar in der Wahrnehmung vieler der anwesenden Leipziger nach wie vor ganz zufällig. Vielleicht ist auch das genau der erste Irrtum?

Vielleicht sind aber die bisherigen Erklärungsmuster auch bequemer: Weil sonst die Gesamtsumme, der eigentliche Verzicht und die wirklichen Rahmenbedingungen eines Systems aus Krieg, Vertreibung und Gewinn auf den Tisch kommen müssten. Die Ressourcenstreitigkeiten auf Kosten derer, die sie haben, mangelndes Trinkwasser in immer mehr Teilen der Welt und eine einfache Frage an die westliche Wertegemeinschaft: Wieso entscheidet die Geburt noch immer über Wohl und Weh in dieser Welt? Vielleicht, weil 50 Millionen Flüchtlinge weltweit als Kollateralschaden so lange akzeptabel sind, bis einige von ihnen vor der eigenen Haustür stehen. Europa lässt im Mittelmeer sterben, doch auch diese Frage bleibt am 17. November auf Belegungsplätze in der Erstaufnahmeeinrichtung, mögliche Verhinderungsstrategien gegen sie vor Ort, in Leipzig begrenzt. Dazu ist es wohl auch nicht der Rahmen.

Egal, wie die Profis es vorn zu argumentieren suchen. Egal auch, wie die Fragen gestellt werden. Oft bleibt es bei vielen irgendwie technisch, distanziert – eine Aufgabe, welcher man sich auf beiden Seiten des Saals eher als Last und mit wenig Lust stellt.
Weshalb man auch im Podium darauf aus ist, den Leipzigern zu erörtern, dass es leicht wird. Wird es natürlich nicht. Wenn man den Blick darauf weitet, was derzeit weltweit geschieht, schon gar nicht.

Bei manchen, meist aus dem Publikum und nicht am Mikrofon agierenden Frauen im Saal bleibt auch Stunden danach der Eindruck ganz eigener Ablehnung von ausländischen Zuwanderern haften. Während diese Frauen meist im Hintergrund, im Publikum agieren und von dort aus auch vernehmbar antreiben, versuchen Männer ihre Ängste “von Mann zu Mann” (manchmal auch sichtbar im Namen ihrer Frauen) mit dem Polizeipräsidenten oder einem Staatssekretär zu besprechen. Oder einen oft sehr hektisch, teils überfordert agierenden Staatssekretär zu attackieren und Nachfragen zu stellen. Die Frauen, welche ans Mikrofon treten, sind hingegen gut vorbereitet und wissen, was sie fragen wollen.

Einige Frauen, die sitzenbleiben, spielen den spitz auflachenden, manchmal höhnischen Background für viele Anfragen. Die offenen Solidarisierungen mit den Flüchtlingen am Publikumsmikrofon bleiben umgekehrt bis auf eine männliche Ausnahme (im nächsten Teil, d. Red.), den Frauen vorbehalten. Bis zu ihrem frühzeitigen Verlassen der Veranstaltung ist es eine kleine Gruppe Männer im hinteren Teil des Saales, welche mit vernehmbaren “Ausländer abschieben” und ähnlichen Äußerungen dazwischenrufen.

Natürlich vergessen viele im Publikum, dass ihre Stuben in den eigenen Häusern warm, die Kinder in der Schule und das Dach heil sind. Dass der Computer läuft, die Preise für Lebensmittel und die Tankfüllung noch stabil sind und das tägliche Tun ihre eigenen Entscheidungen sind. Natürlich haben sie auf dem Weg zu ihrem ganz eigenen Glück eben vor allem dies und manchmal nur noch dieses Glück im Auge.

An komplizierteren Erklärungen oder offene Fragen haben an diesem 17. November nur einige im Publikum Interesse, den meisten geht es um Schutz, Geld und letztlich die Zusage, dass sich nichts ändern und sich der fürsorgliche Staat um das Thema kümmern wird. Den gesamten Abend flackert nur am Rande ab und zu auf, dass es um Solidarität und Kennenlernen gehen wird. Eine schwierige Forderung natürlich, wenn die Erfahrungen in den maßgeblichen Lebensumfeldern Arbeit und Gesellschaft in einer Konsumgesellschaft eher Gegeneinander, Konkurrenz und Entsolidarisierung sein dürften. Schwierig auch, weil eine Erstaufnahmeeinrichtung mit einer durchschnittlichen Aufenthaltsdauer der Flüchtlinge von maximal 3 Monaten ein Kennenlernen ihrer Schicksale fast unmöglich macht.

Wem also werden die Leipziger – egal ob in Wiederitzsch, Gohlis Nord oder an anderen Stellen in Leipzig vertrauen?

Ihren eigenen Augen im Angesicht der Flüchtlinge, so sie sich denn wirklich dafür interessieren? Oder den Erzählungen von Sicherheit, Ruhe und Ordnung? Für diese Frage war es an diesem Abend noch zu früh, mancher Ansatz verhallte noch ungehört. Die Flüchtlinge um welche es gerade geht, sind noch gar nicht in Leipzig angekommen, die Erstunterbringung in Wiederitzsch bleibt aufgrund des schwankenden Investors in der Schwebe.

Die Ängste hingegen sind schon längst da.

Zum Artikel vom 18. November 2014 auf L-IZ.de

Erstaufnahmeeinrichtung in Leipzig (Teil 1): Ein Abend im Haus Auensee – Der Schwebezustand in Wiederitzsch + Audios

Zum Artikel vom 20. November 2014 auf L-IZ.de

Erstaufnahmeeinrichtung in Leipzig (Teil 3): Immobilienpreise, Umzugspläne und Ermutigungen + weitere Audios der Bürgerfragen im Haus Auensee

Zum Artikel vom 19. November 2014 auf L-IZ.de

Asylsuchende im Landkreis Leipzig: Das Landratsamt liefert aktuelle Zahlen

Anm. d. Red.: Bis auf eine Ausnahme wurden die Namen der Fragesteller und Fragestellerinnen bewusst herausgeschnitten. Dies geschah ausschließlich aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen.
Zu Beginn der Bürgeraussprache meldete sich eine Mutter zu Wort und fragte unter dem lauten Beifall größerer Teile des Publikums, wer denn auf die Sicherheit der Kinder achten würde. Die Polizei würde diese sicher nicht zur Schule bringen und wieder abholen. Damit stand gleich zu Beginn der Bürgerfragen auch die indirekte Behauptung im Raum, männliche Flüchtlinge würden vor allem Drogen verkaufen und aus sexuellen Gründen auf Kinder der Nachbarschaft übergreifen.

Es antworteten Dr. Michael Wilhelm für das Innenministerium Sachsens, Bernd Merbitz (Polizeipräsident) und Kai Jatzenko vom Malteser Hilfsdienst zu den Sicherheitsaspekten und den Ängsten vor Übergriffen oder Drogenverkauf auf und an Kinder durch Asylbewerber.Die zweite weibliche Fragestellerin nutzte ihren Beitrag dafür, nach den Zahlen und der Art der sozialen Betreuung also nach der Hilfe für die traumatisierten Flüchtlinge einerseits und der Prävention zu fragen. Dabei verwies sie auf das “Würzburger Modell” und hinterfragte den derzeitigen Betreuungsschlüssel in den Erstaufnahmeeinrichtungen in Schneeberg und Chemnitz.

Dabei wies sie darauf hin, dass nach Erhebungen etwa 80 Prozent der Flüchtlinge psychisch schwer belastet und etwa 60 Prozent schwerere Belastungssyndrome aufweisen. Beantwortet wurden die Fragen von Kai Jatzenko vom Malteser Hilfsdienst und von Staatssekretär Dr. Michael Wilhelm.
“Ich habe Ängste”. Ein Mann aus der Nachbarschaft der derzeit debattierten Übergangslösung formulierte letztlich ein Potpourri aus verschiedenen Vorbehalten gegenüber Asylbewerbern. Von den Schäden am Gebäude des ehemaligen Bundeswehrkrankenhauses begonnen, über die Ängste der Frauen gegenüber “den jungen Männern”, welche da kämen, bis hin zur Sicherheit, welche schon jetzt in Wiederitzsch nicht ausreichend gegeben sei. Seine Fragen beantwortete Bernd Merbitz (Polizeipräsident Leipzig).
Ein Mann berichtete zu Erfahrungen von Verwandten aus Schneeberg und deren Ängste in der Erzgebirgsstadt. Was das Podium eher verwunderte. Nach Auskunft der Runde gäbe es keine Vorfälle in Schneeberg, welche die Angst der Verwandten des Mannes rechtfertigen würden. Es antworteten Staatssekretär Michael Wilhelm, Moderator Peter Stawowy berichtigte erneut die falsche Zahl von 700 Flüchtlingen im ehemaligen Bundeswehrkrankenhaus, da es um 350 maximal gehe und selbst das noch nicht sicher sei.
Um die Frage, was nun eigentlich der derzeitige Investor und Immobilieninhaber “Golden Gate” mit dem ehemaligen Bundeswehrkrankenhaus vorhat, rankten sich ausreichend Gerüchte am Abend des 17. November 2014. Ein Gohliserin erklärte, dass sie seit Längerem vorhabe, in eben dieser Immobilie eine Sport- und Rehabilitationseinrichtung zu planen. Und dazu auch im Gespräch mit “Golden Gate” stünde. Offenbar sucht jedoch der derzeitige Besitzer des Geländes nach weiträumigen Lösungen. So wäre ihr zu Ohren gekommen, es gäbe Planungen, dauerhaft 300 Asylbewerber im hinteren Teil des Geländes unterzubringen. Auch dabei zeigte sich Verwunderung auf dem Podium.

Dr. Michael Wilhelm äußerte dazu, dass der Geschäftsführer von “Golden Gate” das Podiums-Gespräch abgesagt habe und dies für ihn ein Zeichen gewesen sei, dass dieser wohl nicht mit dem Innenministerium sprechen möchte. Moderator Peter Stawowy fragte nach, Dr. Michael Wilhelm zeigte sich eher desorientiert beim Thema, was nun auf dem Gelände in Wiederitzsch genau geplant sei. Er verwies nochmals darauf, dass der Kontakt mit “Golden Gate” sehr schwierig sei.

Die zu diesem Zeitpunkt debattierte Frage, ob eine feste Asylbewerberunterkunft geplant sei, kann letztlich nur die Stadt Leipzig verhandeln. Laut Wilhelm sei in Absprache mit OBM Burkhard Jung keine parallele Erstaufnahme und feste Asylunterkunft möglich. Dr. Wilhelm betonte auch, dass er dann das Gelände “habe”, also darüber mitbestimmen könne, was dann geschehe. Da dieser und auch kein Vertreter der Stadt Leipzig am Abend anwesend waren, blieb dies jedoch teilweise offen. Moderator Peter Stawowy fasste nach dieser Frage nochmals den Status quo der bekannten Vorgänge in Wiederitzsch und Gohlis zusammen.
In einer Nachfrage wurde dieses Thema weiter vertieft, die Nachnutzung nach den 3 (eher 2,5) Jahren der möglichen Nutzung als Erstaufnahmeeinrichtung beschrieb Dr. Michael Wilhelm anders. Er habe in Planung und im Gespräch mit der Stadt Leipzig, dass das Gelände noch 2 Jahre als Unterbringung für von außen nach Leipzig beorderte Bereitschaftspolizei genutzt werden könne. Anschließend beschrieb Dr. Wilhelm nochmals den Zeitablauf, bis hin zum Umzug der Erstunterbringung in die abschließende Erstaufnahmeeinrichtung in der Max-Liebermann-Straße in Gohlis.
Wie und wo kann man sich melden, wenn man helfen möchte, wollte eine junge Frau wissen. Zur Freude des Staatssekretär über dieses Angebot, denn eben diese Hilfe ist neben dem Einstellungsangebot seitens des Malteser Hilfsdienstes offenbar wichtig. Er freue sich über Unterstützungsangebote. Ein Mann hinterfragte nochmals die Einsatzfähigkeit der Polizei, Verständigungsfragen zwischen Polizei und Flüchtlingen und wollte hören, was der Staatssekretär denn nun über die Insolvenz der Firma “Golden Gate” wisse.

Es antworteten Dr. Michael Wilhelm, Polizeipräsident Bernd Merbitz und Kai Jatzenko (Malteser).
Wie genau die Innenkonzeption aussähe, wenn die Unterbringung in Wiederitzsch stattfinden würde, wollte eine junge Frau im weiteren Verlauf wissen. Ob die Häuser im hinteren Bereich auch angemietet seien und ob ein Kauf des Geländes nicht doch möglich sei. Dr. Wilhelm führte nach einer Erläuterung zur Planung im Bundeswehrkrankenhaus aus, dass “Golden Gate” in der Tat gewünscht hätte, das Gelände zu verkaufen.
Zentral oder dezentral war die Frage eines Mannes, wobei dezentral besser wäre – auch bei Erstaufnahmeeinrichtungen. Dr. Michael Wilhelm erläuterte, dass dies aus seiner Sicht nicht möglich sei. Was Widerspruch hervorrief. Es sei auch bei Erstaufnahmen möglich, dezentral zu arbeiten, es läge nur am Geld.

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