"Ich weiß noch gar nicht, wer kommt", sagt Tante E. als man sie am Donnerstag, 11. Juli, auf den Politikerbesuch anspricht. Als sie gesagt bekommt, dass Katrin Göring-Eckardt, die Spitzenkandidaten der Grünen für die Bundestagswahl, kommt, fragt sie: "Muss ich die kennen?" Nein, muss sie nicht. Aber alle Welt scheint wiederum Tante E. zu kennen.

Eigentlich heißt sie Gabi Edler. “Aber mich nennen alle Tante E. Oder einfach Mama, Mutti oder Oma. Die nennen mich so, wie sie wollen.” Sie, das sind die Straßenkinder in Leipzig, denen sie ein warmes Essen, eine Dusche, etwas zum Anziehen oder einen Schlafplatz besorgt. Egal, was einer, der kein Zuhause hat, braucht. Tante E. scheint alles irgendwie ranholen zu können.

“Brauchst Du ein Paar neue Schuhe?”, fragt sie einen ihrer Schützlinge. Die Turnschuhe sind ausgetreten. “Nein, erst mal noch nicht”, sagt er. Er heißt Sebastian, ist 20 Jahre alt und seit fünf Jahren kommt er zu Gabi Edler. Ihr Laden in der Rosa-Luxemburg-Straße ist nach ihr benannt – Tante E. – und steht jedem ab elf Uhr offen. “Eher darf ich nicht aufmachen, wegen der Schule”, erklärt sie. Mittagessen gibt es ab zwölf Uhr, Kaffeetrinken um drei und Abendbrot ab um fünf. Mittags seien jeden Tag 80 Esser da, sagt sie. Heute um Viertel eins waren es schon 40. “Noch mal so viele kommen also noch”, so Edler.

Ständig geht die Tür auf und zu. Ein junger Mann in Shorts und Kapuzenshirt kommt herein. “Mütze runter”, kommandiert Edler. Und sofort streift er die Kapuze ab. Edler widerspricht man nicht. Doch nicht nur, weil sie so resolut ist, sondern weil man spürt, dass sie es gut meint. Sie duzt jeden sofort. Auch Katrin Göring-Eckardt. Die Politikerin hat viele Fragen. Es sind die selben, welche zuvor die wartenden Journalisten schon an Gabi Edler gestellt haben. Und Edler beantwortet sie erneut. Es scheint, als würde sie nie müde, über den Straßenkinder-Verein zu sprechen, den sie gegründet hat. Seit 25 Jahren arbeitet sie für jene, die keine Fürsprecher haben.

“Die Stadt sagt, es gebe keine Armut hier. Aber warum kommen die Kinder dann alle zu mir? Warum sitzen sie hier, um eine warme Mahlzeit zu bekommen?” Und es würden immer mehr. Und sie kämen von überall her – Frankfurt, München, Hamburg. Tante E. kennt jeder. Sie arbeitet nur mit Spenden. “Keine öffentlichen Gelder”, darauf pocht sie. “Es ist die einzige Einrichtung, wo jene, die kommen, nichts bezahlen müssen.”

Göring-Eckardt fragt in die Runde der Esser, wo sie denn noch hin könnten, um etwas zu Essen zu bekommen, und spricht die Tafeln an, die ja auch Lebensmittel abgeben. Die Tafeln sammeln abgelaufene Lebensmittel von Supermärkten ein und geben sie an Bedürftige ab. “Hören Sie mir mit denen auf”, winkt Edler ab. “Es kann doch nicht sein, dass Spenden verkauft werden.” Damit spielt sie darauf an, dass man für jede Tüte mit Essen einen Euro bezahlen muss. Göring-Eckardt verteidigt die Tafeln: “Deren Philosophie ist, dass die Leute das eben nicht geschenkt bekommen. Und ich kenne viele sehr engagierte Leute bei den Tafeln.” Edler winkt immer noch ab.
Der Besuch der Politikerin verfliegt in einer Besichtigung der drei Etagen bei Tante E. und Gesprächen mit den Straßenkindern. Es ist Göring-Eckardts erste Station an diesem Tag in Leipzig. Sie ist derzeit unterwegs auf der “Deutschland-ist-erneuerbar-Tour”. Jürgen Trittin auch. In der Pressemeldung dazu heißt es: “Innerhalb von vier Wochen besuchen sie dabei verschiedene Orte und Einrichtungen, mit denen sie persönlich etwas verbindet.” Göring-Eckardt ist Leipzig verbunden, weil sie hier studiert und in dieser Zeit eine leerstehende Wohnung besetzt hat. Heute besucht sie die ehemals verlassenen Gebäude, die von kreativen Projekten mit neuem Leben gefüllt werden, zum Beispiel auch in der Queckstraße in Lindenau.

Beim Besuch bei Tante E. geht es mit kaum einer Silbe um Politik. Und es mag so vielleicht ganz gut sein. Neben dem Engagement der rüstigen 70-Jährigen wirkt vieles andere nichtig. Edler ist eine Zupackerin. Sie fackelt nicht lange, sondern macht einfach. Für ihre Straßenkinder, von denen viele gar nicht wie Kinder oder überhaupt noch jung aussehen. “Wer auf der Straße lebt, sieht immer älter aus als er ist”, erklärt Edler. Sie darf nur jenen helfen, die mindestens 14 Jahre alt sind. “Jüngere muss ich wegschicken. So etwas kann man doch nicht von mir verlangen.” Und nach oben gibt es kaum eine Grenze. “Vielleicht würde ich Rentner wegschicken aber nein, sowas mache ich auch nicht”, sagt Edler.

Kürzlich hat sie einem alten Herrn eine Wohnung besorgt. “Seine Frau war gestorben und er ist komplett abgestürzt. Es gibt so viele Rentner, die eine Unterkunft brauchen.” Das könne man sich gar nicht vorstellen.

Göring-Eckardt verabschiedet sich nach etwas mehr als einer Stunde, muss weiter zu den nun nicht mehr leerstehenden Häusern und zum Verlagsgebäude am Peterssteinweg. Schließlich ist sie im Wahlkampf.

Kämpfen, das ist Alltagsgeschäft für Gabi Edler, wenn es darum geht, Kinder und Jugendliche von der Straße zu holen. “Zu mir kommen mehr Jungs als Mädchen. Die kriegt man schlechter von der Straße runter, weil sie eben immer noch leichter etwas anderes finden.” Edler will sie vor allem von der Eisenbahnstraße wegholen. “Muss ich erklären warum?” Sie muss es nicht.

Etwas später und ein Stück die Straße runter stehen drei junge Männer zusammen. Sie tauschen einen zusammengefalteten Geldschein gegen etwas kleines Weißes. Dann fahren zwei von ihnen auf Fahrrädern davon. Der eine dreht sich noch um und ruft dem dritten zu: “Mach keinen Scheiß.” Dieser antwortet: “Nee, bestimmt nicht mehr.” Dreht sich um und geht in den Laden von Tante E.

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