Irgendwie ist in diesem Jahr Bundestagswahlkampf. Und viele Politiker bieten schon mal ihre Vermutungen an, worum es dabei gehen könnte. Und unkritische Zeitungen übernehmen das dann. Wie die LVZ am 2. März im Beitrag „Kampf um jede Stimme: Sachsen-CDU bangt um ihre 16 Direktmandate“, der bei den Fluglärmbetroffenen im Leipziger Norden nur Kopfschütteln auslöst. In welcher Welt lebt Michael Kretschmer eigentlich?

Michael Kretschmer ist der Generalsekretär der sächsischen CDU, die augenscheinlich eine Art Luxusproblem hat: Sie bangt um ihre 16 Direktmandate im Bundestag. Das Direktmandat in einem Wahlkreis bekommt immer der Kandidat/die Kandidatin, der oder die die meisten Prozente auf sich vereinigen konnte. Selbst wenn es bloß 30 oder 29 Prozent sind.

Die sächsische CDU stand bis 2015 wie ein monolithischer Block in der Landschaft, gab sich bürgerlich, konservativ, ein bisschen bieder und ein bisschen streng. Das reichte, um jedes Mal die meisten Prozente zu holen gegen eine Landschaft von liberalen und linken Parteien, die zwar bunt war – aber sich fast immer hinter den jeweiligen CDU-Kandidaten einfädelte. Die Zeit ist scheinbar vorbei. Mit der AfD hat die CDU eine Konkurrenz auf dem rechten Rand bekommen. Und zumindest wenn man die Umfrageergebnisse vom November nimmt, dann ist diese Konkurrenz heftig. 25 Prozent hielt die MDR-Umfrage damals für die AfD für möglich.

Das war noch weit vor der Kür von Martin Schulz zum möglichen SPD-Spitzenkandidaten.

Die Umfrage sollte man also zumindest mit Fingerspitzen anfassen. Und man sollte auch ein bisschen länger nachdenken über diese Stimmungslage, als es Kretschmer im Interview tat. Denn da machte er eigentlich sehr deutlich, was eigentlich das Problem der sächsischen CDU ist. Er bezeichnet es als CSU-Nähe. Aber tatsächlich ist die sächsische CDU einer der konservativsten Landesverbände in Deutschland und hatte schon immer namhafte Persönlichkeiten zu bieten, die schon in den Vorjahren heftig rechte Positionen vertraten und jetzt mit AfD-Positionen liebäugeln. Kretschmer nennt die Ex-Minister Horst Metz und Steffen Heitmann und die Bundestagsabgeordneten Veronika Bellmann und Bettina Kudla sowie den Europaparlamentarier Hermann Winkler.

Und wenn er etwas aufmerksamer ist, würde er auch sich selbst mit dazurechnen. Hinter der scheinbar merkel-kritischen Haltung steckt ein ziemlich konservativer Geist. Und der sieht die Welt anders. Ziemlich seltsam, wenn man den LVZ-Beitrag liest: „In der Partei gärt es: Die bundespolitische Ausrichtung behagt den Wenigsten. ‚Wir können die SPD nicht in der Sozialpolitik überholen‘, stellt Kretschmer den Kurs erstmals öffentlich infrage. Hinter vorgehaltener Hand wird seit Langem darüber diskutiert, ob die von der Bundes-CDU markierten Leitlinien die richtigen Themen für den Wahlkampf sind.“

Für Kretschmer heißt das: Der Hauptgegner im Wahlkampf ist die AfD.

Was ziemlich seltsam klingt, denn den Kurs fährt die sächsische CDU ja nun seit Jahren. Man kümmert sich – oft mit ziemlich bissigem Unterton – um den „Komplex Flüchtlinge/Integration“, wie es im Beitrag heißt, der sei „bislang weitgehend ausgeklammert. Deshalb herrscht in der sächsischen CDU eine gewisse Frustration, die nur schwerlich in den Wahlkampf zu kanalisieren scheint.“

Wenn das so ist, hat die sächsische CDU tatsächlich ein Problem. Denn alle aktuelleren Umfragen zeigen, dass das gerade nicht (mehr) die Themen sind, die die Wähler aufregen. Es sind Scheinthemen. Hinter der aufgesetzten Härte gähnt ein gewaltiges Loch.

Und das benennt jetzt ein Brief der Leipziger Bürgerinitiative „Gegen die neue Flugroute“. Denn hinter der Law-and-Order-Politik wird die komplette Abwesenheit der sächsischen CDU sichtbar, wenn es um die Lösung von wirklichen Problemen im Land geht. Zumindest auf oberster Ebene. Das konservative Raumschiff schwebt auch meilenweit über den aktiven CDU-Politikern auf regionaler Ebene.

„Allein das Versagen der CDU fast komplett auf die Merkelsche Flüchtlingspolitik, rechte Parolen und der von anderen Parteien jetzt aus dem Hut gezauberten Gerechtigkeitsdebatte abzustellen, greift wenig“, stellt Matthias Zimmermann, der Pressesprecher der Initiative fest, die nun seit über zehn Jahren darum kämpft, dass am Flughafen Leipzig/Halle die Festlegungen des Planfeststellungsbeschlusses umgesetzt werden und der nächtliche Fluglärm gemindert wird.

„Wenn also eine Partei bzw. deren, ein lukratives Bundestagsmandat anstrebenden, regionalen Repräsentanten nicht in der Lage ist/sind, sich den Nöten der Bevölkerung anzunehmen, muss man sich über auftuende Alternativen nicht wundern“, schreibt Zimmermann. „Dabei gibt es durchaus CDU-Mitglieder, die in Ortschaftsräten oder im Stadtrat (dort allerdings eher schon wieder weniger) aktiv versuchen, sich dem Problem Fluglärm im Interesse der Anwohner zu stellen. Allein, es fehlt die Unterstützung der Berufspolitiker!“

Aktuell habe man die Petition zur Abschaffung der kurzen Südabkurvung in modifizierter Form wieder aufleben lassen, betont Zimmermann. Die Vorgänger-Petition war auch an der CDU im Bundestag gescheitert. Es sind ja keine Wunder, die die Bürger fordern, sondern nachvollziehbare Regelungen, die mit der Einhaltung dessen zu tun haben, was vor dem Bau der Südstartbahn versprochen worden war. Wenn zwischen Versprechen und realer Politik derartige Lücken klaffen, wie sie am Flughafen Leipzig/Halle sichtbar werden, dann untergräbt das ziemlich zwangsläufig das Vertrauen in verantwortliche Politiker und Parteien.

Der Brief der Bürgerinitiative zum Nachlesen.

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