Die Demokratie lebt davon, dass ihre Mitglieder sich aktiv einbringen in Entscheidungsprozesse, in die Gestaltung des Miteinanders. Das Stichwort hierbei: Beteiligung. Bürger*innen müssen abgeholt und einbezogen werden. Welchen Anteil nimmt dabei die Stimme junger Menschen ein? Bietet die Gesellschaft Kindern und Jugendlichen genug Raum, in dem sie gehört und ernst genommen werden? Wie gelingt Jugendbeteiligung und welche Herausforderungen bringt sie mit sich? Die LZ hat darüber mit Thimo Lorenz gesprochen, der als Sozialpädagoge mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Landkreis Leipzig arbeitet.

Du arbeitest im FJM, dem Flexiblen Jugendmanagement im Kinder- und Jugendring des Landkreises Leipzig. Wie sieht deine Arbeit aus?

Unser großes Thema ist die Jugendbeteiligung. Wir versuchen, Jugendlichen die Erfahrung von Selbstwirksamkeit zu vermitteln. Wir unterstützen sie dabei, Ideen umzusetzen und sich einzubringen. Es kann sein, dass Jugendgruppen zu uns kommen mit ihren Ideen, wie zum Beispiel eine Party, ein Skatepark usw. Klassischerweise beraten wir dann, wie diese Ideen umgesetzt werden können. Wir initiieren aber auch selbst Projekte. Es geht immer darum, junge Menschen dazu zu befähigen, sich selbst Gehör zu verschaffen und sie zu beteiligen.

Wie schätzt du die Situation ein: Ist es schwierig, junge Menschen zu erreichen?

Absolut. Das zeigt sich am Thema Jugendbeteiligung allgemein. Die grundsätzliche Frage ist: Wie erreicht man diejenigen, die es am nötigsten haben? Ebenjene, die in so prekären Situationen leben, dass gerade sie diese Erfahrung von Empowerment und Selbstwirksamkeit erleben sollten. Leider sind sie es aber auch, die am schwierigsten zu erreichen sind. Vor allem im ländlichen Raum ist es schwierig, sich Gehör zu verschaffen.

Jugendbeteiligung ist ein sehr kompliziertes Konstrukt, weil es nicht die eine Richtung und die eine Methode gibt, um Beteiligung zu erreichen. Es ist quasi ein Kanon aus verschiedenen Methoden. Dass gewisse Angebote nicht von allen angenommen werden, ist nicht verwunderlich. Die klassischste Form sind beispielsweise Jugendparlamente, -beiräte oder Jugendforen. Zu solchen Dingen hat nicht jede*r Lust, viele können sich damit nicht identifizieren.

Die Personen, die man mit solchen Angeboten schnell erreicht, sind meistens diejenigen, die ohnehin schon politisiert sind. Und es ist wirklich Wahnsinn, was für motivierte, engagierte Menschen sich dort beteiligen. Vor allem, wenn ich es mit meiner Jugend vergleiche (lacht). Natürlich ist diese Arbeit total wichtig und richtig. Aber das kann nicht alles sein. Wir müssen versuchen, eine Methodenvielfalt anzubieten, um flächendeckend die jungen Menschen einzubeziehen und abzuholen.

Cover Leipziger Zeitung Nr. 115, VÖ 28.07.2023. Foto LZ

Braucht es deiner Meinung nach auch mehr Personal im Bereich der Jugendarbeit?

Auf jeden Fall. Der Bedarf ist ja da. Das zeigen auch die Ergebnisse der JuCo-Studie der Universität Hildesheim: 70 Prozent der jungen Menschen fühlten sich während Corona nicht gehört.

Das sollte ein Schlag ins Gesicht sein für die Verantwortlichen. Schließlich gibt es einen gesetzlichen Auftrag zur Jugendbeteiligung, zur Wahrung der Kinderrechte. Gleichzeitig findet diese Beteiligung zu wenig statt und wird durch die verschiedenen Krisen verstärkt. Jugendliche empfinden Ohnmacht.

Das ist für eine Demokratie absolut schädlich, es führt zu Frustration und schlussendlich einer Demokratieverdrossenheit. Das ist Nährboden für Extremismus und Verschwörungen. Da wollen wir als Gesellschaft doch nicht hin. Wenn allerdings zwei Drittel der jungen Menschen angeben, dass sie sich von der Politik nicht gehört fühlen, dann ist es auch Aufgabe einer gut funktionierenden Demokratie, entgegenzusteuern. Da muss man in die Kerbe reinschlagen.

Ich muss aber auch sagen, dass derzeit immer mehr Jugendbeteiligung etabliert wird. Im ländlichen Raum, für den ich sprechen kann, wird das Thema mehr und mehr gesetzt. Viele Kommunen, Institutionen und Behörden machen sich auf den Weg. Gleichzeitig fühlen das zwei Drittel der Jugendlichen nicht. Da muss man ansetzen.

Demnächst wird eine vierte JuCo-Studie veröffentlicht. Vielleicht können wir dann auch sehen, dass diese Verdrossenheit wieder abnimmt, das weiß man bis jetzt noch nicht. Doch es ist sehr wichtig, die richtigen Lehren aus der Krise mitzunehmen und sich entsprechende Konzepte zu überlegen.

Wie groß sind die bürokratischen Hürden in eurer Arbeit? Vieles läuft ja über zeitlich begrenzte Projektförderung.

Die sind groß. Ich bin Sozialpädagoge, doch ein großer Teil meines Alltags findet im Büro statt. Dort wird geplant, vernetzt, Förderanträge geschrieben. Es gibt eine Förderlandschaft für Projekte, das braucht jedoch sehr viel Arbeit. Es braucht ein gewisses Entwicklungsmanagement, das Geld muss ‚ordentlich‘ verwaltet werden, es müssen Verträge geschlossen werden, es braucht eine konkrete Zielgruppe, das alles braucht Zeit. Viele Themen erreichen uns aber sehr ad hoc. Wenn eine Idee dann erst ein Jahr später umgesetzt werden kann, ist das mitunter frustrierend. Diese Mühlen der Verwaltung muss man erst einmal verstehen.

Das aus meiner Sicht beste Mittel, das es gibt, sind Fördermittel für junge Menschen, auf die sich Jugendgruppen eigenständig bewerben können. Diese Anträge stellen die Jugendlichen selbst. Das ist im Grunde die intensivste Art der Selbstwirksamkeit, die sie erfahren können – ein Projekt von Grund auf selbst aufzuziehen und durchzuführen. Wir versuchen, das zu initiieren. Wir veranstalten Workshops dazu, sprechen in Schulen. Aber auch das kann auf jeden Fall weiter ausgebaut werden, die meisten jungen Menschen wissen nichts von dieser Möglichkeit.

Ich verstehe die Gründe für das System der Förderlandschaft, gleichzeitig würde ich meine Zeit gern anders nutzen, als damit, bürokratische Hürden zu meistern. Einen besseren Vorschlag habe ich derzeit leider aber auch nicht.

 Worin liegen die Schwierigkeiten der Jugendbeteiligung?

Strukturen in der Jugendarbeit müssen grundsätzlich fundiert und so geschaffen werden, dass sie krisenfest sind. Eine Schwierigkeit dabei ist, dass es nicht ‚die Jugend‘ gibt. Der Begriff speist sich aus verschiedenen Subkulturen. Das bedeutet, dass jeweilige Methoden angepasst werden müssen an die Umstände und den sozialen Raum vor Ort.

Es braucht sozusagen einen ganzen Koffer an Methodik. Eine Art sind die bereits erwähnten Jugendparlamente. Damit erreicht man aber nur einen gewissen Anteil. Eine andere Möglichkeit sind Institutionen und Behörden, die sich öffnen für Themen.

Nehmen wir zum Beispiel eine Stadtverwaltung: Gerade im ländlichen Raum ist das Thema Infrastruktur / öffentlicher Nahverkehr ein großes Thema. Meine Traumvorstellung wäre, dass die Belange der Jugendlichen bei der Stadtplanung von vornherein mitgedacht werden. Dass Jugendbeteiligung kein „nice to have“ mehr ist, sondern fest verankert in der Verwaltungsarbeit – in jedem Bereich. Jugendliche Anliegen sind ja nicht auf ein Thema begrenzt.

Andere Orte, in denen Konzepte für Jugendbeteiligung gelebt werden können, sind Schulen. Diese sind per se eher nicht demokratisch, sondern hierarchisch organisiert, bieten aber Raum für viele Ideen und Möglichkeiten. Es darf aber nicht aufhören mit Gremien von Schüler*innenvertretungen. Ich denke da an Workshops, eine Zukunftswerkstatt, Umfragen, Projekttage …

Ein zweites Projekt beispielsweise, das ich betreue, ist die Tablet-Rallye in Grimma. Dabei werden Jugendliche über Rätsel an verschiedene Orte in der Stadt geführt und setzen sich spielerisch mit dem Thema ‚Jugendbeteiligung‘ auseinander. Auch die Rätselfragen wurden von jungen Menschen in der Projektarbeit entwickelt. Dieser Ansatz nennt sich „serious game“. Solche Konzepte braucht es.

Bleiben wir konkret an diesem Beispiel: Wie erreicht ihr die Teilnehmenden?

Die Hauptzielgruppe dabei sind Schulen bzw. Schüler*innen. Wir wollen diesen „Serious-Game-Ansatz“ sozusagen mehr vermarkten, das funktioniert über die Bildungseinrichtungen recht gut. Auch, weil es kein kostenloses Angebot ist.

Schulen haben ein gewisses Budget für die Teilnahme an solchen Projekten. Wir sind darauf aber nicht begrenzt, jede und jeder kann eine Buchungsanfrage stellen, beispielsweise Familien.
Ein positiver Effekt an der Teilnahme von Schulklassen an derartigen Projekten ist die Repräsentativität. Schulen sind Orte, an welchen alle zusammenkommen.

Kannst du einschätzen, wie sich der Stellenwert von Jugendbeteiligung in den letzten Jahren entwickelt hat?

Von meinen Kolleg*innen, die schon einige Jahre länger im KJR arbeiten, als ich, weiß ich: Jugendbeteiligung ist momentan schon ein „Trendthema“. Da hat sich in den letzten Jahren viel getan, das muss man ganz klar sagen. Der Status quo bei den Jugendlichen allerdings hat sich verschlimmert durch die Krisen der letzten Jahre. Gleichzeitig wird auch oft Scheinbeteiligung betrieben.

Es gibt beispielsweise Projekte, wie eine kleine repräsentative Befragung, deren Ergebnisse weiterverarbeitet werden – das kann man auf keinen Fall als Erfahrung der Selbstwirksamkeit bzw. Selbstverwaltung verbuchen.

Doch immerhin macht man sich auf den Weg. Und der Bedarf nach Jugendarbeit wächst. Es wird versucht, darauf zu reagieren. Und das ist durchaus spürbar. In einem demokratischen System, welches davon lebt, dass es von den nächsten Generationen getragen wird, ist das essenziell.

„Über die Schwierigkeiten der Jugendbeteiligung: Interview mit Thimo Lorenz“ erschien erstmals zum thematischeSchwerpunkt „Jugend“ im am 28. Juli 2023 im ePaper LZ 115 der LEIPZIGER ZEITUNG.

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