Steigende Fallzahlen für zu wenig Mitarbeitende: So sieht es im 4. Autonomen Frauen- und Kinderschutzhaus, in der Zentralen Sofortaufnahme der Frauen*- und Kinderschutzeinrichtungen und der Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt und Stalking (KIS) in Leipzig aus. Das wollen die Mitarbeitenden nicht mehr tragen. In einem offenen Brief fordern sie von der Stadt Leipzig und dem Freistaat Sachsen mehr Personal und die Umsetzung der Istanbul-Konvention.

Die aktuelle prekäre Lage stelle ein großes Sicherheitsrisiko für von Gewalt betroffene Menschen dar und habe vielfältige schwerwiegende Folgen auch für die Zivilgesellschaft in Leipzig. Zur heutigen Stadtratssitzung veranstalteten sie eine Kundgebung auf dem Burgplatz, um auf die Missstände und Forderungen hinzuweisen. Ziel sei es, dass alle Betroffenen Schutz und Beratung bekommen und ihr Recht auf ein gewaltfreies Leben wahrnehmen könnten. Rund 150 Menschen nahmen an der Kundgebung teil.

„Seit 2018 haben alle Frauen und Mädchen laut der Istanbul-Konvention einen gesetzlichen Anspruch auf Beratung, Schutz und Unterstützung“, so Lara von der KIS. „Wir fordern die Stadt Leipzig und den Freistaat Sachsen dazu auf, die Verantwortung für die gewaltbetroffenen Menschen zu übernehmen. Wir geben hiermit die Verantwortung zurück.“

Auch grundlegende Probleme kritisierten die Redner*innen auf der Kundgebung und im Offenen Brief. So stelle der Mangel an bezahlbarem Wohnraum ein großes Problem für Gewaltbetroffene dar. Auch dürfe ein Frauenhausplatz nicht daran scheitern, dass die Betroffenen die 300 Euro monatlicher Nutzungsgebühr pro Person nicht zahlen könnten. Auch könne man nicht von den Frauen erwarten, dass sie ihre eigene Karriere und die Bildungschancen ihrer Kinder riskierten, weil sie in ein weit entferntes Frauenhaus ziehen müssten.

Erschreckende Zahlen

Seit 2021 haben sich die Meldungen von häuslicher Gewalt an die KIS verdreifacht. Pro Woche sind es rund 27 sind es nach Informationen der KIS. Die Mitarbeitendenzahl der Beratungsstelle ist jedoch gleich geblieben. Deshalb mussten 242 hilfesuchende Personen abgewiesen werden.

Bei den Selbstmelder*innen, also den Personen, die auf Eigeninitiative ohne polizeiliche Meldung die Beratung aufsuchen, sind diese Zahlen noch erschreckender: Nur zwei von zehn bis fünfzehn Hilfesuchenden pro Woche können eine Beratung bekommen. Ein Viertel der beratenen Personen sind Hochrisikofälle, in denen das Risiko eines Feminizids akut ist.

„Wir argumentieren mit Zahlen, weil Zahlen die Geldgeber*innen interessieren“, so Lara von der KIS. „Für uns sind die Zahlen nicht im Vordergrund, sondern die Menschen, die realen Personen. Erwachsene, Kinder, Jugendliche, die sich hinter diesen Zahlen verbergen. Für uns ist es die Frau, die mit ihrem Säugling im Arm vor unserer Tür steht und dringend um einen Termin bittet. Die Tochter, die für ihre Mutter eine lange Mail mit Hilfegesuch schreibt und versucht, diese nach jahrzehntelanger Gewalterfahrung zu unterstützen.“

Auch in der Zentralen Sofortaufnahme, einem Modellprojekt des Freistaats Sachsen zur Koordinierung der Frauenhausplätze in Leipzig, sieht es düster aus. Nur jede dritte Person bekommt einen Platz. Allein im ersten Halbjahr 2023 mussten bereits 168 von Gewalt betroffene Erwachsene mit 152 Kindern abgewiesen werden. Sechs von acht Mitarbeiter*innen kündigten bereits seit der Eröffnung Ende 2020 aufgrund der hohen Belastung.

In der Zentralen Sofortaufnahme, so die Mitarbeiterinnen in ihrer Rede auf dem Burgplatz, begleite man die Frauen in Krisensituationen und das benötige Zeit und Geld. Vor allem, wenn zusätzlich zur häuslichen Gewalt weitere Problematiken wie Sucht oder Wohnungslosigkeit hinzukämen.

„Zu oft sind die Mitarbeiterinnen allein im Dienst, vor allem nachts und an den Wochenenden“, so ein*e Mitarbeiter*in der Zentralen Sofortaufnahme.

„Dabei muss eine Mitarbeiterin alle Aufgaben allein bewältigen. Dazu gehören Fallarbeit, Krisenmanagement, Aufnahmen, Gespräche und die Besetzung des Telefons. Wir arbeiten intensiv mit Frauen in Akutphasen. Das erfordert eigentlich unsere ungestörte Aufmerksamkeit. Das ist jedoch nicht möglich, wenn wir allein im Dienst sind.“

Hohe psychische Belastung der Mitarbeitenden

Eine Forderung nach mehr Geld für weiteres Personal wurde im Juni 2023 durch das Sächsische Ministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung (SMJusDEG) abgelehnt. Man müsse nun die „Gestaltung der Arbeitsprozesse in den Blick nehmen“, so das SMJusDEG. Es stellte die Frage in den Raum, ob das Projekt überhaupt weiterhin tragfähig wäre. Mehr als eine halbe Million erhalte das Projekt vom Freistaat zusätzlich zu den städtischen Förderungen.

„Mit diesem Vorgehen missachtet das Ministerium die Bemühungen der Schutzeinrichtungen um niedrigschwellige und schnelle Erreichbarkeit für Betroffene und gesellschaftliche Aufklärung über Hilfemöglichkeiten. Die Frage darf nicht lauten, wie unser hoch nachgefragtes Modellprojekt abgewickelt werden kann. Die Frage muss lauten: wie kann Sachsen das Recht auf ein gewaltfreies Leben absichern?“

So steht es in dem Fact Sheet zum Offenen Brief. Der Zugang zu Hilfe bei häuslicher Gewalt würde ohne dieses Projekt enorm verschlechtert werden. Das Risiko würde weitere Feminizide in Sachsen würde steigen.

Fact-Sheet zur Krisensituation im Gewaltschutz in Leipzig als PDF

Mangelnde Umsetzung der Istanbul Konvention

In den letzten Jahren ist die Zahl der Plätze in den Frauenhäusern langsam aber stetig gestiegen. Laut dem SMJusDEG waren es 2019 43 Plätze und seit 2021 57 Plätze. Gemäß Istanbul-Konvention müssten es 62 Plätze sein.

Die Istanbul-Konvention ist ein internationales Abkommen zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Sie setzt unter anderem einen Frauenhausplatz mit Kindern pro 10 000 Einwohner*innen fest. Deutschlandweit müsste es rund 21 500 Frauenhausplätze geben. Es fehlen jedoch mehr als 14 000.

In der Umsetzung befindet sich Sachsen laut SMJusDEG im vorderen Mittelfeld. Derzeit prüfe man bundeseinheitliche Regelungen zum Schutz vor häuslicher Gewalt, wie auch eine finanzielle Beteiligung des Bundes an den Hilfesystemen.

Kinderschutzhaus ohne Kinderfachkraft

„Weder die Zentrale Sofortaufnahme noch das 4. Frauen*- und Kinderschutzhaus verfügen über eine Kinder- und Jugendfachkraft“ heißt es kleingedruckt im offenen Brief. Denn auch Kinder und Jugendliche sind von Gewalt in ihren eigenen Beziehungen oder denen ihrer Eltern betroffen. Die mangelnden Plätze in Frauenhäusern haben auch auf Kinder und Jugendliche großen Einfluss.

„Unter den vielen Personen, die 2023 keinen Platz im Frauenhaus bekommen haben, sind auch 152 Kinder“, so Susi, Mitarbeiterin im 1. Autonomen Frauenhaus Leipzig.

„152 Kinder, die sich in der Schule nicht konzentrieren können, weil sie Angst davor haben, dass der Mutter und den Geschwistern zu Hause etwas Schlimmes passiert. Die nicht mehr essen können, weil der Bauch so weh tut vor lauter Sorgen. Die nicht mehr schlafen können, weil sie aufpassen, dass der Vater der Mutter in der Nacht keine Gewalt zufügt.“

Deshalb werden in dem Offenen Brief auch Gelder fĂĽr je eine Stelle als Erzieherin in der Zentralen Sofortaufnahme und eine weitere Stelle fĂĽr die Kinder- und Jugendberatung der KIS gefordert.

Offener Brief Krisensituation Gewaltschutz Leipzig als PDF

Wenn Sie Unterstützung benötigen, können Sie sich an folgende Kontakte wenden:

Zentrale Sofortaufnahme Leipzig: 0341 55 01 04 20
Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“: 0800 116 016
Frauen fĂĽr Frauen e. V.: https://www.fff-leipzig.de/
Bellis e. V.: https://bellis-leipzig.de/

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