Fast zwei Drittel der befragten Mädchen mit Dating-Erfahrung haben sexuelle Grenzüberschreitungen erlebt. Bei den Jungen sind es 60,1 Prozent. Das hat eine Studie der Hochschule Fulda herausgefunden. Sexualisierte Gewalt ist dabei nicht die einzige Form der Gewalt, die Jugendliche in ihren ersten Beziehungen erleben. Warum wird trotzdem so wenig über die sogenannte Teen Dating Violence gesprochen?

Lorre Kirchhoff arbeitet in der „Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt und Stalking“ (KIS) bei Frauen für Frauen e.V.. Dort berät Lorre Kinder und Jugendliche, die häusliche Gewalt zwischen ihren Eltern miterleben oder die selbst durch Elternteile oder eigene Partner*innen von Gewalt betroffen sind. Im Interview erzählt Lorre von den Vor- und Nachteilen des Internets für die Betroffenen und wie fehlende Kinder- und Jugendrechte die Situation für Betroffene erschweren.

Teen Dating Violence: Was ist das?

Teen Dating Violence, kurz TDV, ist Partnerschaftsgewalt bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Die Forschungslage dazu ist leider sehr schlecht in Deutschland. Bei TDV gibt es die gleichen Gewaltformen wie bei Erwachsenen. Das heißt körperliche und psychische Gewalt. Soziale Gewalt, also Isolation von Freund*innen oder Familie spielt eine besondere Rolle, weil die Peergroup (von „peer“, dt. Gleichgesinnte, Anm. d. Red.) in dem Alter oft wichtiger ist als bei Erwachsenen.

Ich kenne das noch von mir als jugendliche Person: Durch Abkapselung vom Elternhaus oder den Sorgeberechtigten wird der Halt durch die Peergroup nochmal viel wichtiger. Erweitertes Stalking kommt als Gewaltform da viel häufiger vor, also das Stalking durch mehrere Personen beispielsweise innerhalb einer Peergroup. Das kann bedeuten, dass Dritte vor deinem Haus Graffitis sprühen oder dich anspucken in der Bahn. Auch digitale Gewalt ist viel stärker als bei Erwachsenen, einfach weil es mehr Teil des Alltagslebens der Jugendlichen ist.

Welche spezifischen Probleme zeigen sich bei der Intervention gegen TDV?

Wenn sich die gewaltbetroffene Person für ein Kontakt- und Näherungsverbot für den Täter entscheidet, dann braucht sie dafür immer die Unterstützung der Sorgeberechtigten. Du kannst zum Beispiel erst ab 18 Jahren zu einer*m Anwält*in gehen und du brauchst die Unterschrift von den Eltern beziehungsweise den Sorgeberechtigten, um einen Gewaltschutzantrag zu stellen. In manchen Fällen dürfen die Eltern aber gar nicht wissen, dass die Kinder verpartnert oder sexuell aktiv sind. Wenn doch, kann das Risiko steigen, dass die Jugendlichen von weiteren Gewaltformen durch ihre Eltern betroffen sind. Oder auch wenn einfach kein Kontakt zu den Eltern und keine Unterstützung möglich sind beziehungsweise die Eltern nicht sorgeberechtigt sind, dann hängt die Handlungsfähigkeit am vom Jugendamt bestellten Vormund.

Damit das endlich aufhört. Der Flyer der KIS. Foto: Yaro Allisat
Damit das endlich aufhört. Der Flyer der KIS. Foto: Yaro Allisat

Durch die verstärkte digitale Gewalt, zeigen sich nochmal ganz neue Handlungsgrenzen auf. Zum Beispiel wenn die Täter ständig neue Profile erstellen, um die betroffene Person zu kontaktieren. Erweitertes Stalking ist auch ein großes Problem. Da kommen die rechtlichen Möglichkeiten an Grenzen, denn ein Kontakt und Näherungsverbot kann immer nur gegenüber einer Person gestellt werden. Im Gewaltschutzantrag muss auch konkret definiert werden, was genau Kontakt mit der Person bedeutet.

Für Jugendliche gibt es auch deutlich weniger anonyme Schutzhäuser. Die meisten Schutzunterkünfte sind häufig ab 18. In Sachsen gibt es nur ein Schutzhaus für MINT* (Mädchen, Inter, Nicht-binär, Trans*, Anm. d. Red.), meistens als Mädchen gelabelte Personen. In Leipzig gibt es keine. Das heißt, dass man als betroffene Person nach Dresden oder Berlin fahren muss. Das ist extrem hochschwellig.

Warum sind Schutzunterkünfte wichtig. Sind die nicht eher relevant, wenn Täter und Betroffene*r in einem Haushalt leben?

Auch unter Jugendlichen gibt es Hochrisikofälle. Das sind Fälle, in denen ein hohes Risiko eines Feminizides besteht. Viele denken, das gibt es unter Jugendlichen nicht, aber da macht eine Altersgrenze keinen Unterschied. Täter*innen kennen nicht nur den Wohnort, sondern auch alltägliche Wege und Orte der Betroffenen – somit sind eine anonyme Schutzeinrichtung sowie ein Sicherheitsplan unabdingbar, soweit die betroffene Person das will.

Jugendhilfeeinrichtungen wie zum Beispiel der Kinder- und Jugendnotdienst sind keine sicheren Schutzorte, da Täter*innen sich leicht Zugänge verschaffen können.

Wie sind die Geschlechterverhältnisse bei TDV?

Grundsätzlich ist Partnerschaftsgewalt bei Jugendlichen bisher in der Forschung kaum ein Thema. Die Studienlage sieht daher sehr dünn aus.  Zu mir in die Beratung kommen wegen Teen Dating Violence ausschließlich Personen, die sich als Mädchen oder Frauen identifizieren.

Wenn ich jugendlich bin und von partnerschaftlicher Gewalt in einer Beziehung betroffen bin, wohin kann ich dann gehen? Wie sieht die Beratung bei euch konkret aus?

Jugendliche, die in die Beratung kommen, sind entweder Selbstmelder*innen, also haben selbst von der Beratungsstelle erfahren oder wie in den meisten Fällen nehmen wir proaktiv Kontakt zu ihnen auf, nachdem es einen Polizeieinsatz gab. Häufig berichten mir Jugendliche, dass sie sich während des Einsatzes von der Polizei wenig ernst genommen gefühlt haben. Das lässt sich auf das strukturelle und gesellschaftliche Bild von Jugendlichen zurückführen.

Zunächst hängt das Beratungssetting von der Situation der betroffenen Person ab: Kann die Person zu uns kommen oder muss ich irgendwohin kommen, beispielsweise in die Schule oder Einrichtung. In vereinzelten Fällen, bei kontrollierenden Partner*innen oder Elternteilen, ist es zum Beispiel schwierig, wenn die Jugendliche nach der Schulzeit nicht direkt nach Hause kommt. Das Setting sollte so sicher wie möglich sein, beispielsweise durch die Transparenz zu Grenzen und Möglichkeiten der Beratung.

In der Beratung geht es erstmal darum, gemeinsam mit der Jugendlichen die Gefährdungslage zu klären, sowie einen Sicherheitsplan zu erstellen. Da kann Außen- und Innensicht sehr unterschiedlich sein. In manchen Hochrisikofällen sehen sich die Betroffenen gar nicht in Gefahr.

Einige Jugendlichen, die in einer gewaltvollen on-off Beziehung sind und aus unterschiedlichen Gründen keine Trennung möchten, biete ich eine Ambivalenzberatung an. Dabei geht es um das Sortieren von Gedanken und das Sprechen über Ängste. Viele haben große Angst, sich zu trennen oder Angst, alleine zu sein. Oder die Angst, dass nach der Trennung alles noch viel schlimmer wird und der*die Täter*in komplett eskaliert. Zu Recht, denn während und nach einer Trennung nimmt die Intensität der Gewalt häufig zu.

Häufig erkennen die Jugendlichen selbst Muster der Beziehung ihrer Eltern wieder, also dass ein Elternteil geschlagen wurde oder in einem ungleichen Machtverhältnis gelebt hat. Da kann man dann gemeinsam reflektieren und schauen, wo die eigenen Grenzen sind und welches Muster man nicht reproduzieren will.

Wenn die betroffene Person weiter mit dem Täter zusammenbleibt, dann geht es immer um die Stärkung des Bewusstseins über die eigenen Grenzen, sowie das Bewusstsein über das Recht auf ein gewaltfreies Leben und die Möglichkeiten für die jederzeitige Umsetzung und Unterstützung dessen.

Du meintest, dass Jugendliche sich an Beziehungsmustern ihrer Eltern orientieren. Ist es oft so, dass Jugendliche, die früher häusliche Gewalt erlebt haben, auch in TDV-Beziehungen landen?

Ja, das Risiko ist erhöht, dass Jugendliche oder junge Erwachsene in ihrer Partnerschaft Gewalt erfahren oder ausüben. Der Ort Familie hat einen großen Einfluss auf das Erlernen des Konfliktverhaltens. Aber nicht ausschließlich, es gibt viele andere Orte, die Konfliktverhalten prägen und resilienzförderlich sind. Viele Menschen, die in der Kindheit in einer Atmosphäre von Gewalt aufgewachsen sind, leiden an Glaubensätzen, die Minderwertigkeitsgefühle und Schuldgefühle auslösen. Auch deshalb ist die Beratung von Kindern, die Zeug*innen von häuslicher Gewalt sind oder werden, so zeitnah wie möglich nach einem Vorfall, notwendig!

Die Zahlen von TDV sind unglaublich hoch. Warum wird darüber trotzdem noch so wenig gesprochen?

Bundesweite Studien zu Partnerschaftsgewalt bei Erwachsenen gibt es viele. Gleiches gilt für die Sichtbarkeit in den Medien. Wünschen würde ich mir eine stärkere Diskussion darüber, inwieweit die Länder ihrer Verpflichtung der Istanbul-Konvention nachkommen. Häufig werden die Kinder und Jugendlichen nur MITgedacht und nicht grundsätzlich einbezogen. Es gibt nach wie vor keine Kinderrechte im Grundgesetz. Das spiegelt aus meiner Sicht auch den Umgang auf vielen Ebenen gegenüber Kindern und Jugendlichen wieder. Zum Beispiel auch die fehlende Prävention.

Welche Präventions-Angebote gibt es?

(Lange Nachdenkpause) Mmh, naja viele gibt es da nicht. Ich kann jetzt hier nichts über den nicht-existierenden guten Sexualkundeunterricht erzählen und auch nicht von einem Unterrichtsfach, in dem über Grenzen, Rechte und Geschlechtergerechtigkeit gesprochen wird. Also eine Prävention als fester Bestandteil von Kita und Schule ist mir nicht bekannt, wäre auf jeden wichtig. Es gibt in Leipzig zwei Fachstellen für geschlechtergerechte Pädagogik, Girlz*Space und Lemann e.V., die Workshops und Projekttage an Schulen durchführen und auch Fachkräfte schulen. Sie begleiten auch einmal jährlich die Präventionsausstellungen „Echt krass“ und „Echt fair“. Das ist eine Wanderausstellung, die man sich überall in Deutschland buchen kann und die zu Sexualität und Beziehungen aufklärt.

Die Rechte der Kinder. Foto: Yaro Allisat
Die Rechte der Kinder. Foto: Yaro Allisat

Was denkst du, was bräuchte es zur Prävention?

Ganz grundsätzlich braucht es mehr Kinder- und Jugendrechte. Erst seit einem Jahr haben Kinder und Jugendliche ein Recht auf Beratung ohne Zustimmung der Sorgeberechtigten. Bis dahin war es eine Grauzone und viele haben sich nicht getraut, es anzubieten.

Und dann gibt es drei verschiedene Arten von Prävention: Bei der Primärprävention sind alle Kinder und Jugendliche Adressat*innen. Da würde ich mir wünschen, dass Gewaltprävention an Kitas und Schulen fester inhaltlicher Bestandteil wird. Da braucht es mehr Schulungen für die Lehrer*innen und Fachkräfte selbst.

Die zweite Art, also die Sekundärprävention richtet sich an alle Jugendlichen, bei denen es erste Übergriffe gab und eine frühzeitige Hilfe notwendig ist, um eine Normalisierung und weitere Auswirkungen zu vermeiden. Da braucht es niedrigschwellige Angebote und Abbau von bürokratischen Hürden. Da sind wir wieder bei mehr Rechten für die Jugendlichen.

Maßnahmen der Tertiärprävention haben das Ziel, Personen bei denen sich Erkrankungen bereits manifestieren, das heißt verfestigt haben, so zu behandeln, dass ein weiteres Fortschreiten, Folgeschäden oder ein Wiederauftreten der Erkrankung verhindert werden.

Die Maßnahmen der Tertiärprävention haben das Ziel, Personen, bei denen Gewaltdynamiken in der Beziehung verfestigt sind und wo möglicherweise die Betroffenen unter PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung Anm. d. Red.) leiden, traumapädagogische und langanhaltende Unterstützungsangebote zu bieten. Da geht es auch darum, weitere, schlimmere Gewalt zu verhindern und um die Herstellung von psychischer Stabilität. Zum Beispiel durch einen vereinfachten Zugang zu Psychotherapie und keine ewige Wartezeit.

Beratungs- und Unterstützungsangebote in Leipzig und bundesweit:

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar