Es gibt sie noch, die Suburbia. Der Speckgürtel von Leipzig, der in den 1990er Jahren wuchs und um die 40.000 Stadtflüchtlinge aufnahm. Aus Leipzig zu fliehen, war angesagt. Wer konnte, leistete sich ein Eigenheim draußen im Muldental. Wer sich das (noch) nicht leisten konnte, zog in ein Neubaugebiet nach westlichem Standard, wie sie überall aus dem Boden schossen. Einige auf Stadtgebiet, andere kurz dahinter.

Diese Wohnburgen stehen in Gröbers genauso wie in Engelsdorf, Lindenthal, Wiederitzsch, Böhlitz-Ehrenberg und Rückmarsdorf. Die Hälfte von ihnen wurde 1999/2000 eingemeindet, so dass aus Tausenden geflüchteter Leipziger wieder “richtige” Leipziger wurden. Es ist ein Zufall, dass die große Eingemeindungswelle von 23 Gemeinden mit rund 70.000 Einwohnern 1999/2000 zusammenfiel mit der Trendwende der Bevölkerungsentwicklung in Leipzig selbst, das binnen weniger Jahre – von 1989 bis 1998 – über 90.000 Einwohner verloren hatte. Die meisten an den Westen, wo sie mit Sack und Pack auf Jobsuche gingen. Einige Tausend ans Umland, wo sich viele endlich den Traum vom naturnäheren Wohnen erfüllten.

Oder das, was sie dafür hielten. Viele waren es auch einfach leid, in unsaniertem Altbau zu leben. Die große Sanierungswelle in Leipzig begann erst, als einige der schlimmsten Steuerbefreiungsmodelle der “Nachwendezeit” endlich ausliefen und die Immobilienbesitzer und Investoren wieder begannen, nachhaltiger zu denken. Der Effekt machte sich genau 1999 bemerkbar. 1997 hatte die Fluchtwelle aus Leipzig ihren Höhepunkt erreicht. Seitdem gingen die Zahlen der Wegzüge zurück. Ab 1999 nahm die Zahl der Zuzüge zu und es gab erstmals einen positiven Wanderungssaldo in Leipzig. Die Sanierungsaktivitäten in der alten Gründerzeit, die jetzt wieder ihre Schönheit entfaltete, machten sich bemerkbar.

Damals – das scheint nun schon wieder ganze Zeitalter her zu sein – waren es die Südvorstadt und Connewitz, die in diesem neuen Trend die Zugmaschinen waren. “Reurbanisierung” nannten die Forscher das wenig später, als sie merkten, dass Dasselbe auch in anderen deutschen Großstädten geschah. Nachdem Bausparkassen und Wohnparkentwickler den Deutschen jahrzehntelang eingehämmert hatten, man müsse im eigenen Häuschen draußen im Grünen wohnen und raus aus der viel zu lauten und zu teuren Stadt, zogen die jungen Bayern nun auf einmal verstärkt nach München, weil dort Leben in der Bude war. Die jungen Hessen nahmen in Frankfurt noch jede kleine Dachkammer, um in der quirligen Großstadt Fuß zu fassen. Dasselbe begann in Hamburg und Berlin, in Dresden und Leipzig. Womit Dresden und Leipzig bis heute auffallen im deutschen Osten, der eher für seine schmelzende Bevölkerung bekannt ist.

Aber auch im Osten suchen junge Leute nach Orten zum Wohnen, wo Leben Spaß macht und alles da ist, um auch eine Familie zu gründen. Das Institut für Wirtschaftsforschung (IWH) in Halle hat zwar versucht zu erforschen, ob die Ausdünnung von wichtigen Infrastrukturen oder auch die amtliche Zusammenlegung von Kommunen und Kreisen dabei eine Rolle spielten. Die Forschungen scheinen das nicht zu bestätigen.

Aber Leben ist komplex, hängt nicht nur von Behörden und verfügbaren Ärzten ab, sondern auch von Schulwegen, Einkauf, ÖPNV, Freizeitangeboten.

Und diese Komplexität war den meisten Dörfern und Kleinstädten schon in den frühen 1990er Jahren verloren gegangen. Alle ostdeutschen Landesregierungen und Kommunalfürsten hatten auf Center gesetzt – Einkaufscenter, Wohnparks, Gewerbeparks. Als wäre der Osten ein Klein-Amerika. Die Highways und die Riesenparkplätze baute man gleich dazu – und ließ ein Jahrzehnt lang die dörflichen und städtischen Zentren regelrecht veröden. Erst die Initiative “Ab in die Mitte!” weckte auch in Sachsens Verwaltungen jenseits der drei Großstädte das Bewusstsein dafür, wie wichtig ein funktionierendes Lebenszentrum für die Region ist.

Den Sachsen selbst war das schon vorher klar. Nach der Schule packten sie ihre Sachen und zogen weg. Dahin, wo kompakte Lebensqualität noch zu finden war. 2002 merkten es auch die Leipziger Statistiker: Da wuchs die Bevölkerungszahl zum ersten Mal wieder, ohne dass irgendein Dorf eingemeindet werden musste.Andreas Martin beschäftigt sich in einem ausführlichen Beitrag im neuen “Quartalsbericht II / 2012” mit der Zuwanderung nach Leipzig, beleuchtet die ganze Entwicklung seit 1991 und vergleicht die 15 größten deutschen Städte miteinander. Leipzig ist – hinter München und Frankfurt a. M. – die wachstumsstärkste Stadt in Deutschland. Gefolgt von Dresden. Und seit 2010 beobachten Leipzigs Statistiker noch einen Effekt: Vorher hatte Leipzig zwar gegenüber dem kompletten Osten ein Wanderungsplus, zogen die jungen Leute aus Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Brandenburg zu Hunderten nach “Klein-Paris”. Aber gegenüber dem Westteil der Bundesrepublik war der Saldo immer negativ. Es zogen mehr Leute in den Westen, als – etwa zum Studium – nach Leipzig kamen.

Das hat sich 2010 gedreht. Seitdem ist auch die Zuwanderung aus dem Westen nach Leipzig stärker als die Abwanderung. Die einzige Ausnahme 2011: Berlin. Und das wird wohl auch so bleiben. Wer aus Leipzig wegzieht, weil ihm die Stadt zu klein geworden ist oder nicht mehr kreativ genug, dem bleibt eigentlich nur noch Berlin. Wenn es nicht gleich Paris, London oder New York sein sollen.

Seit 1999 ist zwar in Leipzig die Re-Urbanisierungs-Maschine angelaufen. Aber das heißt nicht unbedingt, dass niemand mehr in den Speckgürtel zieht. Auch wenn die meisten Kommunen im Leipziger Umland ihre Attraktivität gegenüber Leipzig eingebüßt haben. Denn mit der aktivierten Gewässerlandschaft in Leipzig sind natürlich alle Ortsteile am Auwald genauso attraktiv geworden, wie es früher die Idylle in Machern, Brandis oder Naunhof war. Dazu kommt: Die Leipziger Gründerzeitquartiere sind besser angebunden, sind jünger und lebendiger.

Der Speckgürtel um Leipzig hat also mittlerweile überall einen negativen Wanderungssaldo gegenüber Leipzig. Nur ein Rest von der alten Suburbia leuchtet noch in “Gewinnerrot” auf der Karte, die Andreas Martin dem Beitrag hinzugefügt hat: Leichte Wanderungsgewinne gibt es in Borsdorf, Rötha und Großpösna. Und die Städte Taucha und Markkleeberg profitieren davon, dass weiterhin viele besserverdienene Leipziger eine Wohnung vor den Toren der Stadt suchen. In Markkleeberg gekoppelt mit direktem Anschluss an das Neuseenland. Mit allen Problemen, die entstehen, wenn Menschen gedankenlos sind und ihr Leben auf das Automobil aufbauen.

Hingegen zieht es kaum jemanden in den nördlichen Teil des Neuseenlandes. Der Wanderungsaldo für Schkeuditz, Rackwitz und Krostitz gegenüber Leipzig ist negativ. Es ist nicht wirklich idyllisch im Grünen, wenn nachts die Frachtflieger übers Haus rumpeln. Und ein Blick ins Leipziger Stadtgebiet zeigt: Auch dort hat die einstige Suburbia ihre Probleme.

Dazu morgen mehr an dieser Stelle.

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