Das Peinliche an der Politik der Gegenwart ist, dass die falschen Themen dominieren. Zumindest das haben die Nörgler der rechtsradikalen Parteien geschafft: Eine blasierte Mittelklasse redet auf allen Kanälen über „die Ausländer“. Dafür verschwinden die tatsächlichen Armutsprobleme im Nebel. Und keine Stadt in Sachsen ist so arm wie Leipzig. Immer noch. Denn an einem Teil der Stadtgesellschaft geht der Aufschwung völlig vorbei. Die Zwangsräumungen erzählen davon.

Würde die Gesellschaft so ausgeglichen und sozial gut gesichert sein, wie es die hochbezahlten Ökonomen gern erzählen, dürfte es eigentlich keine Zwangsräumungen geben, keine Stromabschaltungen, keine finanzielle Not, die es Menschen unmöglich macht, das Lebensnotwendigste zu bezahlen.

Bestenfalls dürften es Einzelfälle sein, in denen die Kommune helfen müsste.

Aber es sind keine Einzelfälle.

Die Zahlen, die die Landtagsabgeordnete der Linkspartei, Susanne Schaper, bei der sächsischen Staatsregierung abgefragt hat, erzählen nach wie vor von einer Gesellschaft, die tausende Menschen mit ihren finanziellen Nöten allein lässt und meistens erst dann hilft, wenn das Dach überm Kopf gekündigt wurde.

Es ist auch die Kehrseite des Leipziger Wohnungsmarktes, der längst eng geworden ist. Binnen weniger Jahre ist eine opulente Wohnungsmarktreserve wie Eis an der Sonne geschmolzen. Und das Erste, was vom Markt verschwunden ist, sind die kleinen bezahlbaren Wohnungen für all diejenigen, die für den wirtschaftlichen Aufschwung entweder nicht „flexibel“ genug waren – oder mit miesen Einkommen abgespeist wurden.

Seit Jahren liegt die Zahl der Zwangsräumungen in Leipzig bei über 1.000 im Jahr. Oder bei drei pro Tag.

Und daran haben auch die Aufschwungjahre nichts geändert. Auch landesweit blieb 2017 die Zahl gerichtlich verfügter Zwangsräumungen unverändert hoch. 3.427 zählten die Gerichte, im Vorjahr waren es 3.425 gewesen.

Im Gerichtsbezirk Leipzig sank die Zahl zwar von 1.434 auf 1.397. Aber mit 1.074 Zwangsräumungen blieb die Stadt Leipzig weiterhin unangefochtener „Spitzenreiter“ in Sachsen. 2016 hatte es hier 1.095 Zwangsräumungen gegeben. Und das war beide Male mehr als doppelt so viel wie im vergleichbar großen Dresden, wo es 2016 noch 497 Zwangsräumungen gab, im nächsten Jahr noch 485.

Die Zahlen sind für ganz Sachsen relativ stabil, so dass man eigentlich davon ausgehen kann, dass es eine ganze gesellschaftliche Schicht gibt, die trotz aller gefeierten Einkommenssteigerungen aus ihrer finanziellen Notlage nicht herausgekommen ist.

Ob diese Haushalte tatsächlich alle zwangsberäumt wurden, kann Justizminister Sebastian Gemkow (CDU) freilich nicht sagen, denn Statistiken über die durch Gerichtsvollzieher vollzogenen Räumungen liegen nicht vor. Es ist gut möglich, dass die Hölle für die Betroffenen in etlichen Fällen anders aussieht und die Kommunen in letzter Not hilfreich eingegriffen und beim Finden von Ersatzwohnraum geholfen haben.

Und da schon diese Daten nicht vorliegen, ist natürlich die Suche nach den Gründen für alle diese Zwangsräumungsanordnungen ebenso müßig.

Immer da, wo es um die Fakten geht, die unsere Gesellschaft tatsächlich beschreiben und die Armut unten im Keller der Gesellschaft sichtbar machen könnten, erweisen sich die offiziellen Statistiken als erstaunlich dünn und lückenhaft.

Die Antwort auf Susanne Schapers Anfrage zu Zwangsräumungen in Sachsen. Drs. 12071

Landtagsabgeordnete fordert eine sächsische Wohnungslosenstatistik und einen besser finanzierten sozialen Wohnungsbau

Landtagsabgeordnete fordert eine sächsische Wohnungslosenstatistik und einen besser finanzierten sozialen Wohnungsbau

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

“die trotz aller gefeierten Einkommenssteigerungen aus ihrer finanziellen Notlage nicht herausgekommen ist.” Steigerungen, die unter der Inflation liegen, sind keine Steigerungen im eigentlichen Sinne. Das Problem ist, dass die Reallöhne seit 20 Jahren sinken. Das hängt auch damit zusammen, wie medial darüber berichtet wird. Wenn vom großen Schluck aus der Pulle gefaselt wird, weil es 5 % mehr Lohn, verteilt auf 2 Jahre, gibt, dann muss man sich nicht wundern, wenn es insbesondere für die niedrigen Einkommen nicht aufwärts geht, denn die 5%, gesplittet auf 2 Jahre sind kaum mehr als der Inflationsausgleich. Da hat dann der “Arbeitskampf” nur dazu geführt, dass man am Ende nicht deutlich weniger im Portemonnaie hat.

Schreiben Sie einen Kommentar