Der größte Witz am Leipziger Lärmaktionsplan, der jetzt fortgeschrieben und am 29. April vom Stadtrat beschlossen wurde, ist das Blümchenkapitel „Ruhige Gebiete“. Die Kategorie hat sich Leipzig nicht selbst ausgedacht. Die Diskussion darum wird auf Bundesebene geführt. Aber wie fast jedes Thema, das mit Umweltbelastung und Verkehr zu tun hat, natürlich falsch. In der Regel nach dem Motto „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“.

In einer Publikation des Umweltbundesamtes kann man dazu lesen: „Die Art der Flächennutzung ist das bisher am häufigsten verwendete Auswahlkriterium für ruhige Gebiete. Rund 90 Prozent der deutschen Gemeinden mit ausgewiesenen ruhigen Gebieten haben dieses Kriterium herangezogen. Die Kommunen ziehen vor allem folgende Flächen für ruhige Gebiete in Betracht: Grünflächen / Parks, Waldflächen, Wasserflächen / Moore, Naturschutzgebiete / Naturdenkmäler / FFH-Gebiete / Rekultivierungsbereiche und Landwirtschaftsflächen.

Seltener genannt werden: Kleingartenanlagen, Friedhöfe, Altstadtkerne, Krankenhaus- / Klinikgelände, Altenheime, Kurgebiete sowie Kindergärten, Schulen und Spielplätze. Die Einbeziehung bebauter Bereiche wird in Deutschland kontrovers diskutiert. Während die einen mit der Ausweisung von Wohngebieten als ruhige Gebiete die geringe Lärmbelastung festschreiben wollen, fürchten andere eine mangelnde Akzeptanz von den Einwohnenden, die sich stark vom Lärm gestört fühlen, aber weder in einem geschützten ,ruhigen‘ Bereich noch in einem sehr stark belasteten ,Hot Spot‘-Bereich wohnen, der lärmsaniert wird.“

Auch Leipzig hat deshalb ausschließlich Auenwaldgebiete und Parks als „ruhige Gebiete“ ausgewiesen.

Doch der ganze Sinn des Begriffs geht damit verloren. Darauf weist ja schon das Zitat des Umweltbundesamtes hin: Die „Bürger“ selbst werden als Argument herangezogen, warum sie nicht in einem erklärten „ruhigen Gebiet“ wohnen wollen.

Wer sich erinnert: Fast acht Wochen lang war fast ganz Leipzig ein „ruhiges Gebiet“. Der Shutdown sorgte dafür, dass der Großteil des motorisierten Verkehrs zum Erliegen kam und die Lärmbelastung im gesamten Stadtgebiet verschwand, wirklich verschwand. Es wurde richtig still in der Stadt. Selten konnte so eindeutig erlebt werden, welch einen Lärm der motorisierte Straßenverkehr macht. Für einen Moment war vorstellbar, wie ruhig eine Stadt sein könnte, wenn man einfach den motorisierten Verkehr reduziert.

Aber davon kann in Leipzig keine Rede sein. Der Lärmaktionsplan ist zwar vollgestopft mit lauter (Straßenbau-)Vorhaben, mit denen der Lärmpegel punktuell gesenkt werden soll. Aber das war auch schon im ersten Lärmaktionsplan von 2012 so. Geändert hat sich fast gar nichts. Die Stadt ist noch genauso lärmbelastet wie vor acht Jahren.

Der Grund ist simpel: Sämtliche Maßnahmen, die den wirklich überflüssigen Motorenlärm aus der Stadt schaffen könnten, wurden vermieden. Und das wichtigste Lärmminderungsprojekt steht nicht mal drin im Plan: Der den Erfordernissen entsprechende Ausbau eines sicheren Radwegenetzes. Die Umweltverbände haben es ja in der Corona-Auszeit deutlich thematisiert – und trafen dabei auf eine Baubürgermeisterin, die nicht einmal begriffen hat, worum es geht.

Denn wenn Radwege so ausgebaut sind, dass die Leipziger ohne Angst aufs Fahrrad wechseln können und überall hin sicher mit dem Rad kommen, dann reduziert sich logischerweise der Autoanteil deutlich. Dann muss man auch nicht mehr über Stellplatzprobleme sprechen. Und man versteht auch sein eigenes Wort wieder, wenn man auf der Straße mit Menschen spricht.

Seit Montag, 4. Mai, ist das wieder vorbei, sind Leipzigs Straßen wieder voller Autos, wird gedrängelt, gerast und gehupt.

Leipzig hat die seltene Gelegenheit, das Radfahren attraktiver zu machen, mit amtlicher Ignoranz vergeigt.

Die Leipziger dürfen sich den nun beschlossenen Lärmaktionsplan natürlich ansehen. Aber von „Aktion“ werden sie daran nichts finden, nur viel Kleinklein und Alibi-Maßnahmen, die am eigentlichen Problem nichts ändern: der mutigen Reduzierung der wirklich umweltschädlichen Lärmarten. Das Format hat unsere Stadtverwaltung nicht.

Die am 29. April im Stadtrat beschlossene 1. Fortschreibung des Lärmaktionsplans aus dem Jahr 2013 kann im Internet auf www.leipzig.de/laerm eingesehen werden.

Für Bürgerinnen und Bürger ohne Zugang zur digitalen Fassung des Plans besteht die Möglichkeit, unter der Telefonnummer (0341) 123-1629 einen Termin zur Einsichtnahme im UiZ (Technisches Rathaus) zu vereinbaren. Plan und Protokoll zu den eingegangenen Anregungen können vom 11. bis 26. Mai eingesehen werden, teilt das Amt für Umweltschutz mit.

Der Rest ist dann Geschwurbel, so wie dieser Satz, den man in unterschiedlichen Variationen seit über zehn Jahren immer wieder hört: „Hauptquelle für Feinstaub und Stickoxide ist vor allem der Kfz-Verkehr. Aus diesem Grund bewirken Maßnahmen zum Lärmschutz, wie z. B. die Reduzierung des MIV auch eine Verbesserung der Luftschadstoffbelastung im Stadtgebiet.“

Die folgende Tabelle zeigt, dass die belasteten Straßen auch zu den lautesten in der Stadt gehören. Und die meisten davon weisen eben keine ausgebauten Radanlagen auf.

Leipziger Straßen mit hoher Lärm-- und Schadstoffbelastung. Grafik: Stadt Leipzig, Lärmaktionsplan
Leipziger Straßen mit hoher Lärm– und Schadstoffbelastung. Grafik: Stadt Leipzig, Lärmaktionsplan

„Ziel der Lärmaktionsplanung ist es, Lärmemissionen zu vermindern und zu vermeiden, insbesondere dort, wo die Geräuschbelastung gesundheitsschädliche Auswirkungen hat“, versucht sich das Amt für Umweltschutz die Arbeit der vergangenen acht Jahre schönzureden.

„Durch die Umsetzung der Maßnahmen zur Lärmminderung und Luftreinhaltung konnte bislang beispielsweise die Lärmbelastung von über 9.000 Bewohnern in der Nacht nahezu halbiert werden“, konstatiert Umweltbürgermeister Heiko Rosenthal.

Die Fortschreibung basiert auf den Ergebnissen der Lärmkartierung von 2012, der im Jahr 2016 durchgeführten frühzeitigen Bürgerbeteiligung, der öffentlichen Auslegung im Juni und Juli des vergangenen Jahres sowie dem ersten Umsetzungsbericht. Räumlich wurde die Planung auf das gesamte Stadtgebiet ausgedehnt, inhaltlich um den Flugverkehrslärm erweitert.

Und warum der ganze Plan zahnlos ist, zeigt dann die Vorgehensweise, die nun einmal nicht zu einer flächendeckenden Lärmminderung führt, sondern nur zu einer punktuellen: „Handlungsschwerpunkte bilden weiterhin Straßenabschnitte und Bereiche, in denen die Belastung über den Auslösewerten des ersten Lärmaktionsplans von 70 Dezibel tags und 60 Dezibel nachts liegt. Weiterer Bedarf ergibt sich aufgrund der Absenkung der Auslösewerte auf 67 Dezibel tags und 57 Dezibel nachts.

Zur Minderung des Kfz- und Straßenbahnverkehrslärms wurden Maßnahmen erster und zweiter Priorität abgeleitet. Dazu zählen insbesondere straßenverkehrsrechtliche und verkehrsorganisatorische Maßnahmen, der Betrieb von Geschwindigkeitsanzeigetafeln sowie Verkehrsflussdosierungen. Neben den Maßnahmen für konkrete Straßenabschnitte enthält der fortgeschriebene Lärmaktionsplan flankierende Schritte aus dem Bereich des Umweltverbundes sowie der Raum- und Stadtplanung.

Die Anzahl ruhiger Gebiete wurde erweitert und zu deren Schutz verschiedene Instrumente erarbeitet. So sollen etwa prioritär eine Zunahme des Lärms vermieden und die ruhigen Gebiete möglichst sogar weiter entlastet werden. Im Ergebnis beinhaltet der Plan 76 Einzelmaßnahmen, von denen über 30 den Umweltverbund betreffen und weitere mehr als 20 den Kfz-Verkehr.“

Es stimmt schon – man findet auch Dutzende Maßnahmen für den Radverkehr – aber eben leider mit dem verwaltungsüblichen Begriff „Prüfung“ versehen. So etwa „Prüfung einer Markierung von Radfahrstreifen in der Jahnallee, Käthe-Kollwitz-Straße, Karl-Heine-Straße und Prager Straße“ (Letzteres in dem schon lange diskutierten Abschnitt „An der Tabaksmühle bis Südfriedhof“). Wirklich umgesetzt werden soll nur „Anordnung von Radfahrstreifen in der Goethestraße, der Breiten Straße, abschnittsweise in der Zwickauer Straße und in der Riesaer Straße“. Das ist für eine Stadt wie Leipzig schlicht zu wenig.

Der Rest ist ein bunter Werbespruch: „Mit der Lärmaktionsplanung wird die Entwicklung zu einer nachhaltigen Mobilität ganz im Sinne der Mobilitätsstrategie 2030 unterstützt. Zudem trägt sie zum Erhalt und der Verbesserung der Umwelt- und Lebensqualität bei und erfüllt damit auch die Ziele der integrierten Stadtentwicklung.“

Nein, diese Ziele erfüllt sie nicht. Wohin die Reise gehen müsste, wenn das ganze Anliegen überhaupt ernst genommen werden sollte, war in den vergangenen acht Wochen zu erleben. Aber wer redet von Zielen, wenn man sich auch mit Alibi-Plänen herausreden kann?

Fluglärm ist jetzt drin im Leipziger Lärmaktionsplan, Grüne fordern jährliche Umsetzungsberichte + Update

Fluglärm ist jetzt drin im Leipziger Lärmaktionsplan, Grüne fordern jährliche Umsetzungsberichte + Update

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