Die Zahlen unterscheiden sich zwar. Offiziell geht man von 140 Todesopfern allein an der Berliner Mauer aus. An der innerdeutschen Grenze geht man insgesamt von 790 Todesopfern aus. Dieser Opfer sollte auch in Leipzig gedacht werden, findet die CDU-Fraktion im Leipziger Stadtrat.

โ€ž40 Jahre deutsche Teilung, 40 Jahre des Nebeneinanderher in dennoch ganz unterschiedlichen Lebenswelten, mit kontrรคren Sozialisationen und mรถglichen Lebensentwรผrfen gebieten uns auch im Jahr 2022 sowie in der Zukunft die differenzierte Aufarbeitung der Schicksale der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland sowie der DDRโ€œ, hatte die CDU-Fraktion in ihrem Antrag dazu geschrieben.

โ€žInsbesondere die Schicksale derer, die aufgrund der Teilung und des Systemkampfes ihr Leben lassen mussten, dรผrfen wir dabei nicht vergessen. Diese Opfer โ€“ zu denen allein mehr als 600 Menschen zรคhlen, die an der innerdeutschen Grenze ihr Leben lieรŸen โ€“ dรผrfen nicht in Vergessenheit geraten. Ihr Tod mahnt uns heute umso mehr, fรผr die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten und das Privileg, in einem freien, geeinten und demokratischen Deutschland zu leben, nicht als Selbstverstรคndlichkeit zu betrachten.โ€œ

Sรคtze, die so klingen, als wรคren sie gerade erst im Schatten der Putinschen Invasion in der Ukraine geschrieben. Aber damit hatte auch die CDU im Leipziger Stadtrat nicht gerechnet, als sie sich ein jรคhrliches โ€žwissenschaftliches Symposium unter Federfรผhrung des Stadtgeschichtlichen Museums zur Aufarbeitung der SED-Diktaturโ€œ wรผnschte und eine besondere Wรผrdigung fรผr den vor 60 Jahren an der Grenze erschossenen Peter Fechter.

Ein jรคhrliches Symposium wรคre nicht bezahlbar

Das Kulturamt begrรผรŸt den VorstoรŸ jetzt zwar, unterbreitet aber lieber einen Alternativvorschlag. Denn: โ€žDie Stadtverwaltung begrรผรŸt den Vorschlag, an ein Opfer der innerdeutschen Grenze zu erinnern. Der konkrete Vorschlag des Antrages lautet, an Peter Fechter zu erinnern. Die Verwaltung schlรคgt alternativ vor, an ein Opfer zu erinnern, dass einen Bezug zur Stadt Leipzig aufweist. Die Veranstaltung eines jรคhrlichen wissenschaftlichen Symposiums zum 13. August wird abgelehnt, da es die finanziellen und personellen Kapazitรคten des Stadtgeschichtlichen Museums und der Stadtverwaltung รผbersteigt.โ€œ

Und so ganz ohne Erinnerung ist ja Leipzig bei diesem Thema nicht, betont das Kulturamt:

โ€žEin Gedenkstein fรผr Opfer der stalinistischen Gewaltherrschaft besteht auf dem Sรผdfriedhof bereits, die Erinnerung an die Todesopfer der innerdeutschen Grenze auch durch eine StraรŸenbenennung prominenter hervorzuheben, dรผrfte jedoch als sinnvoller Vorschlag anzusehen sein, fรผr dessen weitere Behandlung die eigens dafรผr eingerichtete wissenschaftliche Kommission herangezogen werden sollte.โ€œ

โ€žWollte man dafรผr รผber den nicht mit Leipzig verbundenen Peter Fechter hinausgehen, mรผsste zunรคchst eine biographische Recherche angestrengt werden. Dr. Siegfried Schmidt hat im Auftrag des Referat Protokoll im Amtsblatt 16/2021 insgesamt sechs Opfer am Eisernen Vorhang in Tschechien und Bulgarien benannt. Nรคhere Angaben dazu liegen bisher nicht vor.โ€œ

Das heiรŸt: So wirklich grรผndlich erforscht ist das Thema fรผr Leipzig noch nicht. Und eine konkrete Erinnerung an Leipziger, die an der Mauer zu Tode kamen, wรคre natรผrlich besser.

Der Fall Jรถrgen Schmidtchen

Eine Beziehung gibt es, die ja einst auch mit der Benennung des Leipziger Kulturhauses โ€žJรถrgen Schmidtchenโ€œ รถffentlich war.

โ€žAbsehbar mรผsste dabei auch mit dem Schicksal des 1962 im Dienst von flรผchtigen Kameraden erschossenen Leipziger Grenzsoldaten Jรถrgen Schmidtchen und seiner Instrumentalisierung als Held in der DDR umgegangen werdenโ€œ, stellt das Kulturamt dazu fest.

โ€žDie handgreifliche persรถnliche Tragik und die selektive Erinnerungspolitik der DDR lassen sich gerade einer jungen Generation angesichts dieses Themas sehr gut vermitteln. Dies kรถnnte beispielsweise ein sinnvoller Beitrag des SGM zu einer solchen Tagung sein, der dann auch in ein Vermittlungsangebot in der Dauerausstellung mรผnden kรถnnte.โ€œ

Jรถrgen Schmidtchen ist tatsรคchlich in Leipzig geboren worden und kam ebenfalls 1962 an der Berliner Grenze ums Leben, vier Monate vor Peter Fechter. Erschossen wurde er รผbrigens von dem Chemnitzer Offiziersschรผler Peter Bรถhme, der bei diesem Fluchtversuch ebenfalls ums Leben kam. Eine Geschichte, die im Grunde die ganze Tragik und Wirrnis einer schwer bewachten Grenzmauer deutlich macht, in der scheinbar โ€žSystemeโ€œ sich feindlich gegenรผber stehen, in Wirklichkeit aber Menschen voneinander getrennt und dazu gebracht werden, aufeinander zu schieรŸen.

Vergessen in der Stellungnahme des Kulturamtes wurde glattweg, dass in Leipzig auch zwei Segmente der einstigen Berliner Mauer an diese erinnern โ€“ eines auf dem Gelรคnde der VNG und eines direkt vor der Runden Ecke. Diese kรถnnte man durchaus einbeziehen in die Erinnerungskultur um die Opfer der innerdeutschen Grenze.

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