Das Landesgericht Bozen bestätigte in seiner Entscheidung vom heutigen 28. Oktober den Antrag der Staatsanwaltschaft, die Ermittlungen gegen oekom-Verleger Jacob Radloff und die Mitglieder des Umweltinstituts aus Mangel an Beweisen einzustellen. Die Betroffenen begrüßen die Entscheidung als einen bedeutenden Teilsieg für das Recht auf freie Meinungsäußerung.

Die Pestizidprozesse gegen oekom-Autor Alexander Schiebel und Agrarreferent Karl Bär vom Umweltinstitut München gehen jedoch weiter. Die nächste Verhandlung ist am 27. November 2020 gegen Karl Bär.

Das Bozener Landesgericht hat am heutigen Mittwoch, 28. Oktober, entschieden, das Ermittlungsverfahren gegen den Geschäftsführer des Münchner oekom Verlags, Jacob Radloff, einzustellen und keine Anklage gegen ihn zu erheben. Radloff verlegte im Jahr 2017 Alexander Schiebels Buch „Das Wunder von Mals“, in dem der Autor die massive Anwendung von Pestiziden im Südtiroler Apfelanbau anprangert. Aus diesem Grund war gegen den Verleger als „Mittäter im Verbrechen der erschwerten üblen Nachrede“ ermittelt worden.

Auch die Ermittlungen gegen aktive und ehemalige Vorstände des Umweltinstitut München wurden heute zu den Akten gelegt. Initiator der Anzeigen gegen Radloff, Alexander Schiebel und das Umweltinstitut München war der Südtiroler Landesrat für Landwirtschaft und damalige stellvertretende Landeshauptmann Arnold Schuler.

Jacob Radloff begrüßt die Entscheidung, dass sein Verfahren zu den Akten gelegt wurde, äußert sich gleichzeitig jedoch sehr besorgt über den weiteren Fortgang der Südtiroler Pestizidprozesse: „Ich fühle mich in meiner Position bestärkt. Solange eine Kritik berechtigt ist und einer öffentlichen Auseinandersetzung dient, darf sie auch pointiert und meinungsstark ausfallen.

Doch auch wenn ich nun nicht mehr selbst auf der Anklagebank Platz nehmen muss, stehen immer noch Menschen vor Gericht, weil sie auf ein real existierendes Problem aufmerksam gemacht haben. Meine Solidarität gehört weiterhin unserem Autor Alexander Schiebel und Karl Bär vom Münchner Umweltinstitut. Wir werden uns auch weiterhin mit aller Kraft dafür einsetzen, um diesen Prozess auch für sie zu einem guten Ausgang zu bringen.“

Ebenfalls eingestellt wurden die Verfahren gegen aktuelle und ehemalige Vorstandsmitglieder des Umweltinstituts München. Das Umweltinstitut initiierte im Jahr 2017 eine öffentlichkeitswirksame Kampagne zur Aufklärung der Öffentlichkeit über den hohen Pestizideinsatz in Südtirol, auf die Landesrat Arnold Schuler und über 1.300 Obstbauern aus der Region mit den Anzeigen wegen übler Nachrede reagierten.

Wie bei Radloff sah das Bozener Gericht aber auch hier keine ausreichenden Beweise für eine Anklage und stimmte dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Archivierung der Strafverfahren zu. Auch für das Umweltinstitut bedeutet die Entscheidung aber nur einen Teilsieg, weil Agrarreferent Karl Bär schon im November seinen nächsten Prozesstag bestreiten muss.

Anwalt Canestrini zur Einstellung der Verfahren: „Der Weg zur Gerechtigkeit ist manchmal lang und steinig. Nach drei Jahren wurde nun zumindest für die Vorstände des Umweltinstituts und Jacob Radloff die Unschuld festgestellt. Wir werden das Recht auf freie Meinungsäußerung nun auch für die beiden letzten Angeklagten, Karl Bär und Alexander Schiebel, erstreiten.“

Welle der Solidarität für die Angeklagten

Im Vorfeld der Verhandlung erreichte die Beklagten eine Welle der Solidarität. Neben mehr als 100 zivilgesellschaftlichen Organisationen meldeten sich deutsche, aber auch Südtiroler Verlegerkolleg/-innen sowie zahlreiche Persönlichkeiten aus Politik und Umweltverbänden, um ihre Solidarität zu bekunden – darunter der bayerische Landesverband Bündnis 90/Die Grünen, Renate Künast (ehemalige Landwirtschaftsministerin), Carlo Petrini (Präsident von Slow Food) und Sarah Wiener (EU-Abgeordnete, Publizistin und Köchin) – aber auch Menschenrechts- und Meinungsfreiheits-Organisationen wie Index on Censorship oder das Whistleblowing International Network.

In einem Brief appelliert Margarete Bause, Menschenrechtsbeauftragte von Bündnis 90/Die Grünen und Mitglied des Deutschen Bundestages an Landesrat Arnold Schuler: „Mit wachsender Sorge und zunehmendem Unverständnis beobachte ich, wie hier mit den Mitteln des Strafrechts eine politische Auseinandersetzung geführt wird. Inzwischen haben viele Beobachter den Eindruck, dass der Streit sich zu einem Angriff auf die Meinungsfreiheit ausgewachsen hat. Die Folge ist ganz offensichtlich ein drohender Ansehensverlust für Südtirol insgesamt, nicht nur für seine Äpfel. (…) Deswegen appelliere ich an Sie, Herr Landesrat Schuler, Ihre Strafanzeigen und auch Ihren Widerspruch gegen die Verfahrenseinstellung gegen den Geschäftsführer des oekom-Verlags ohne Bedingungen zurückzuziehen.“

Alexander Schiebel und Karl Bär drohen bei einer Niederlage weiterhin nicht nur eine Haft- oder Geldstrafe, sondern auch mögliche Schadensersatzforderungen von der Landesregierung und den Nebenkläger/-innen in Millionenhöhe und damit der finanzielle Ruin.

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