Es passt wie die berühmte Faust aufs Auge. Kaum hat sich die L-IZ mit Niedriglohnjobs und den damit verbundenen unverhältnismäßigen Anforderungen beschäftigt, gibt es neue Zahlen aus dem Land der Billiglöhner. Demnach gehen so viele Arbeitnehmer wie noch nie in Deutschland inzwischen einem Zweitjob nach. Die Zwickauer Bundestagsabgeordnete Sabine Zimmermann (Die Linke) hat die Zahlen bei der Bundesagentur für Arbeit laut der "Chemnitzer Freien Presse" abgefragt.

So besserten Ende vergangenen Jahres 2,66 Millionen Menschen ihr Einkommen aus einer regulären Hauptbeschäftigung mit einem Minijob auf. 59.000 beziehungsweise 2,3 Prozent mehr als am Vorjahresende. Hinzu kommt, dass 25 Prozent aller Arbeitnehmer sich keinen Urlaub leisten können. Davon seien 47 Prozent Alleinerziehende.

Damit arbeiteten Ende 2012 immerhin 9,1 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nebenbei in einem weiteren Arbeitsverhältnis. Der Anteil hat sich damit innerhalb von zehn Jahren mehr als verdoppelt (2003: 4,3 Prozent). Im Dezember 2012 gingen allein im Freistaat Sachsen laut Bundesagentur 72.795 Menschen einer zweiten Beschäftigung nach: 44.454 Frauen und 28.341 Männer. Ein Jahr zuvor waren es 70.277.

Im Jahr 2003 waren es noch 34.564 Zweitjobber. Zimmermann sieht in der deutlichen Zunahme einen Beleg dafür, dass “für immer mehr Beschäftigte das Einkommen aus einem Job nicht mehr ausreicht”. Der überwiegende Teil der Zweitjobber mache dies “aus purer finanzieller Not und nicht freiwillig”. Die rund 73.000 betroffenen Sachsen dürften wohl dieser Interpretation zuneigen und hätten sicher nichts gegen eine angemessene Bezahlung im Erstjob. Doch wie weit selbst die, die es besser wissen müssten, von der harten Realität entfernt sind, beweist die fast zynisch zu nennende Aussage einer hochdotierten Angestellten des öffentlichen Dienstes.

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Eine Sprecherin des Bundesarbeitsministeriums betonte, dass es keine Erhebung zu dem Thema gebe. Deshalb seien neben finanziellen Engpässen auch andere Gründe vorstellbar, etwa eine “gestiegene Konsumlust”.

Diese offenbar wenig nachvollziehbare Interpretation der Zahlen sorgt nun seit gestern für einen ordentlichen Wirbel im Netz. Im überwiegenden Teil der Kommentare in sozialen Netzwerken und auf den Seiten der Mainstreammedien attestieren hier Realitätsferne der Politik, wenn es um den derzeitigen Arbeitsmarkt geht. Und das Wort “Konsumlust” macht sich auf den Weg in die Top 10 der Unworte des Jahres.

Auch dass es angeblich keine Erhebungen und Untersuchungen des zum Thema zu geben scheint, lässt wenig Gutes in der Steuerung und bei zukünftigen arbeitspolitischen Entscheidungen erahnen.

Nach etwa 10 Jahren Bewegungslosigkeit im Nettolohn mit leichten Abwärtstendenzen bei steigenden Lebenshaltungskosten ist auch ein Blick in den sogenannten Warenkorb für die Berechnung der Lebenshaltungskosten erkenntnisreich. Beim Statistischen Bundesamt wäre also auch die namenlose Sprecherin des Bundesamtes für Arbeit und Soziales fündig geworden. Dabei fällt bei der Betrachtung der “Privaten Konsum­ausgaben” von 2005 bis 2011 ins Auge, dass die Haushalte in Deutschland durchschnittlich für Waren des täglichen Bedarfes Jahr um Jahr 2,13 Prozent mehr ausgeben.

Auffällig ist der überdurchschnittlich ansteigende Anteil daran bei “Wohnen, Energie, Wohnungs­instand­haltung”. Hier ist die Kostensteigerung bei 2,85 Prozent pro Jahr, also weit über dem sonstigen Mittelwert. Auch in absoluten Monatszahlen ist es die höchste Steigerung in den letzten sechs Jahren gewesen. In diesem Bereich ging es demnach munter von 662 Euro auf 775 Euro also um gesamt 113 Euro Monat für Monat hinauf und stellt damit den größten absoluten Einzelposten bei den Preissteigerungen dar. Noch weit abgeschlagen dahinter die Kostensteigerungen für “Nahrungs­mittel, Getränke und Tabak­waren” und “Freizeit, Unterhaltung und Kultur”.

Schlechte Ernten, steigende Energiepreise und hier und da ein Umdenken der Käufer machen 2013 nun solche Grundnnahrungsmittel wie Kartoffeln und Butter mit Preisauftrieben von 30 und 40 Prozent zu einem weiteren Freund der “Zweitjobber”. Im zynischen Bundesregierungsdeutsch also neben Energie und Mietpreis ein steter Garant dafür, dass auch weiterhin die Konsumlust und bei stagnierenden Löhnen die Zahl der geringfügigen Nebenbeschäftigungen munter weiter steigen wird. Was weiter sinken könnte, ist die Zeit für Kinder und Familie.

Zu den Zahlen des Bundesamtes für Statistik
www.destatis.de | Einkommen, Konsum, Lebensbedingungen | Private Konsumausgaben
Gerne würden wir doch die Sprecherin des Bundesarbeitsministeriums auf diesen Urlaub mitnehmen, ihr einen ausgeben, um zu zeigen, wie gerne wir eigentlich noch einen dritten Job annehmen würden. Wer braucht schon Schlaf. Die Zeit sollte man doch vielleicht noch für den vierten Job nutzen, um vielleicht annähernd so viel zu verdienen wie jene Sprecherin des Bundesarbeitsministeriums. Schließlich hat der Tag 24 Stunden. Es gibt also zunehmend mehr von diesen Doppeljobbern.

Sicher mag man noch nicht untersucht haben, warum so viele Menschen noch einen zweiten Job annehmen müssen. Aber manchmal reichen gesunder Menschenverstand und eigene Erfahrungen aus, um sich selber ein zuverlässiges Bild zu machen. Die Ursachen liegen demzufolge auf der Hand: Sehr viele Menschen haben einfach nicht mehr genug Geld in der Tasche, können vielleicht gerade so ihren Lebensunterhalt bestreiten, aber ein Urlaub ist schon nicht mehr drin, geschweige denn ein neues Auto. Und das hat Gründe, die ebenso auf der schon zitierten Hand liegen: Seit zehn Jahren haben sich die Löhne nicht nur nicht nach oben bewegt sondern sind sogar gesunken.

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