Eigentlich hat Sachsen einen Innenminister, der es wissen muss. Der es auch schon seit 2010 wissen müsste, wie das rechtsextreme Milieu in Sachsen funktioniert. Denn damals entschloss sich sein Ministerium, eine Studie in Auftrag zu geben, die sich mit den rechtsextremen Intensivtätern genauer befasst. Am Mittwoch, 26. November, hat Innenminister Markus Ulbig (CDU) die fertige Studie nun vorgestellt. Und nicht nur Linke und Grüne sehen sich bestätigt.

Zusammen mit dem stellvertretenden Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung der TU Dresden (HAIT), Prof. Dr. Uwe Backes, hat Ulbig am Mittwoch die Ergebnisse des Forschungsprojektes “Rechts motivierte Mehrfach- und Intensivtäter in Sachsen” präsentiert.

“Die Studie bestätigt unsere bisherige Herangehensweise”, sagt Ulbig. “Der Rechtsextremismus ist und bleibt Schwerpunkt der Arbeit unserer Sicherheitsbehörden. Es wird aber auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe bleiben, Rechtsextremisten nachhaltig den Nährboden zu entziehen.”

Die Studie ging der Frage nach, welche Merkmale rechte Mehrfach- und Intensivtäter kennzeichnen. Mit den gewonnenen Erkenntnissen sollen künftige Entwicklungen und Brennpunkte rechter Gewalt früher erkannt werden, um noch schneller gegensteuern zu können. Dazu wurden aus der Gruppe der in Sachsen straffällig gewordenen Gewalttäter aus dem Bereich der politisch rechts motivierten Kriminalität für den Zeitraum 2001 bis 2011 insgesamt 463 Mehrfachtäter – davon 70 Intensivtäter – ermittelt und näher untersucht. Befragen wollten die Autoren der Studie die Auserwählten auch gern – aber die verweigerten in der Regel jegliches Gespräch.

Aber selbst die Auswertung von Polizeidaten, Gerichtsakten, Szenemedien, nachrichtendienstlichen Informationen und Interviews ergab, dass zwei Drittel der betrachteten Intensivtäter in Sachsen geplant vorgehen und sich dadurch vom bundesweit geltenden Befund für rechts motivierte Gewalttäter unterscheiden würden, stellt nun das Sächsische Innenministerium fest. Was ja wohl bedeutet, dass der “bundesweit geltende Befund” so nicht stimmen kann, denn strukturell unterscheidet sich die sächsische Nazi-Szene in nichts von der bundesdeutschen.

Auch der Anteil ideologisierter Täter sei in Sachsen bei dieser Gruppe weit höher als beim Durchschnitt der rechten bzw. rechtsextremen Gewalttäter. So entfallen etwa zwei Drittel der Delikte auf das Themenfeld “Konfrontation gegen links”. Mit rund 90 Prozent sei auch der Gruppentäteranteil außerordentlich hoch, wundern sich jetzt SMI und Hannah-Arendt-Institut gemeinsam. Hat man tatsächlich die ganze Zeit dem allgemeinen Tenor der deutschen Innenminister geglaubt, die auf dem rechten Auge lieber etwas blind waren und aus allen Wolken fielen, als 2011 der NSU bekannt wurde?

Haben die ausgiebigen Recherchen von Journalisten zum Strukturumfeld des NSU auch drei Jahre nach 2011 die Wahrnehmungsschwelle der Regierenden nicht wirklich erreicht?

Prof. Dr. Uwe Backes: “Die 151 Gewalttaten mit Beteiligung von Intensivtätern sind ganz überwiegend Gruppentaten. Aus den Tatbetrachtungen konnten im Untersuchungszeitraum 17 relevante Gruppen identifiziert werden. Die meisten Gruppen verfolgten mit mehr oder weniger planhaftem, aufsuchendem Gewalthandeln das Ziel, ?zeckenfreie Zonen? zu schaffen. Ideologische Einflüsse waren vor allem in Gestalt des Mediums Rechtsrockmusik bei allen Gruppen erkennbar. Die Gewalttäter agierten nicht nur häufiger, sondern auch brutaler als die übrige Täterpopulation. Zwölf der 64 lebensbedrohlichen Taten wurden als Exzesstaten eingestuft.”Alles Dinge, die auch schon auf den “Thüringer Heimatschutz” und ähnliche Strukturen auch in Süddeutschland zutrafen. Aber man sieht augenscheinlich stets nur, was man sehen will.

Die Forschungsarbeit des HAIT lief von Juli 2012 bis August 2014 und wurde vom Freistaat Sachsen gefördert. Kooperationspartner waren das Landeskriminalamt, das Operative Abwehrzentrum (OAZ), das Landesamt für Verfassungsschutz, die Staatsanwaltschaften, der Kriminologische Dienst im Strafvollzug, das Bundeskriminalamt und das Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Köln.

Dumm nur, dass die Studie, obwohl sie sich nur mit rechtsextremen Intensivtätern beschäftigt, sein obligates Extremismus-Bild bestätigt. In den Schlussfolgerungen, die er für die Sicherheitsbehörden zieht, heißt es: “Neben fremdenfeindlicher Gewalt hat sich die erbitterte und gewaltsame Bekämpfung des politischen Gegners zu einem Aktionsfeld der rechten Szene mit bemerkenswerter Intensität und einem immer aggressiveren Auftreten entwickelt. In Zukunft müssen wir mit einer stärkeren Konfrontation linker und rechter Gruppen rechnen. Für die Polizei heißt das maximale Aufmerksamkeit bei rechten wie linken Kundgebungen, Aufzügen und Demonstrationen.”

Da sind sie dann also flugs wieder in einem Sack – die Rechten und die Linken. Da muss Ulbig nicht mal Luft holen zwischendurch.

Und was sagen die Linken selbst dazu?

Kerstin Köditz, Sprecherin für antifaschistische Politik der Fraktion Die Linke im Landtag, die sich ja nun mit dem Thema seit Jahren intensiv beschäftigt, sieht sich natürlich auch bestätigt. Aber in ihrer Kritik an der Politik des Innenministers.

“Die Studie zeigt, welche seit langem anhaltende Gefahr von rechter Gewalt in Sachsen ausgeht. Sie zeigt auch, dass viele Täter an eine nazistische Ideologie gebunden sind, sich in Gruppen zusammenschließen und mit gezielter Brutalität vorgehen. Das war der Wissenschaft schon länger bekannt und ergibt sich weithin aus öffentlich zugänglichen Quellen. Ich habe das immer betont – oft wurde mir entgegnet, es handle sich ‘nur’ um ‘Einzeltäter’. Diese falsche Sichtweise dürfte endlich überholt sein”, kommentiert sie die jahrelang in Sachsen gepflegte Einäugigkeit. Der sächsische Innenminister hat einfach die einschlägigen Forschungen zum Thema seit Jahren ignoriert – und sich lieber mit seinen Innenministerkollegen in Ost und West in Beruhigung geübt: alles nur Einzeltäter.

“Das Sächsische Innenministerium war bisher nicht einmal imstande, die Zahl rechter Mehrfach- und Intensivtäter anzugeben. Im Hause Ulbig realisiert man offenbar erst jetzt die Tragweite des Problems”, sieht Köditz zumindest so einen Anschein von Erkenntnisgewinn im sächsischen Innenministerium. “Die Sehschwäche auf dem rechten Auge ist Symptom eines weiteren, ebenso ernsten Problems: Man vertraute den unwissenschaftlichen und völlig schiefen ‘Analysen’ des so genannten “Verfassungsschutzes”. Deshalb hat die Fraktion Die Linke als Konsequenz des NSU-Untersuchungsausschusses im Sächsischen Landtag eine gezielte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der extremen Rechten gefordert – anstelle immer neuer ‘Verfassungsschutz’-Eskapaden.”

Und da sie das Thema all die Jahre beackert hat, weiß sie auch, wo die Regierung auch die Landtagsabgeordneten gezielt von wichtigen Informationen fern hielt. Köditz: “Dass wir damit richtig liegen und konsequent sind, zeigt auch ein delikates Detail der Studie: Professor Backes durfte Aktenmaterial nutzen, das dem NSU-Untersuchungsausschuss im Sächsischen Landtag nicht zur Verfügung gestellt wurde. Aus diesen Dokumenten ergeben sich wertvolle Hinweise auf das Wirken der bis heute aktiven ‘Hammerskins’. Herr Backes hätte in dem Zusammenhang wenigstens darauf hinweisen können, dass der frühere Anführer dieser militanten ‘Hammerskin’-Bande namens Mirko H. ein V-Mann war.”

Was natürlich auch ein Grund dafür ist, dass das Ministerium über die eigentlichen Köpfe in den rechten Strukturen lieber gar nicht so genau Bescheid wissen wollte.

Und auch Petra Zais, Rechtsextremismus-Expertin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Sächsischen Landtag, fordert nun echte Konsequenzen, nicht wieder nur laue Versprechen. Dass Ulbig sich bestätigt fühlt, findet sie zumindest merkwürdig.

“Die Staatsregierung muss nun die Konsequenzen aus der Studie ziehen, statt sich auf den Standpunkt zu stellen, man habe bisher alles richtig gemacht”, sagt Zais. “Bevor aus Jugendlichen Mehrfach- und Intensivtäter werden, haben sie die Erfahrung gemacht, dass ihre Taten keine Konsequenzen nach sich ziehen. Sei es, weil sie nicht erwischt wurden oder weil sie jahrelang auf ihr Gerichtsverfahren warten. Verfolgungsdruck und schnelle Verfahren können aber nur mit ausreichend Personal erreicht werden. Hier hat die CDU-geführte Staatsregierung in den letzten Jahren aber überhaupt nicht gehandelt, sondern im Bereich der Polizei und der Justiz Stellen abgebaut.”

Und was der Minister dann am Mittwoch versprach, geht für sie über warme Worte nicht hinaus.
“Dass Innenminister Ulbig anmahnt, es sei gesamtgesellschaftliche Aufgabe, ist nur die halbe Wahrheit. Wer wie der Innenminister die sogenannten Pegida-Demonstrationen verharmlost, die Woche für Woche mehr Nazis in Dresden auf die Straße bringt, hat noch nicht mal seine eigenen Aufgaben wahrgenommen. Und wie wenig er das Engagement der Zivilgesellschaft gegen Nazis schätzt, hat er mit seiner Extremismusklausel eindrucksvoll bewiesen”, betont Zais. Tatsächlich verweist die 300-Seiten-Studie auf ein systematisches Wegducken im zuständigen Ministerium und ein Schönreden dessen, was sich in Sachsen im rechten Umfeld abspielt.

Ansonsten findet auch Zais, dass die Autoren der Studie ein ordentliches Stück Arbeit geleistet haben: “Die Studie vermittelt wertvolle, aber auch erschreckende Erkenntnisse zu den Hintergründen rechter Gewalt. Sie belegt, dass Neonazis zumeist aus einer Gruppe heraus schwerste Gewalttaten gegen den politischen Gegner, linke Treffs und junge Menschen aus der alternativen Szene, begehen. Dass die Täter selten spontan, sondern gezielt und planvoll vorgehen, muss bei allen politischen Akteuren Alarmglocken auslösen. Der Schritt in den Untergrund und zu terroristischem Vorgehen ist dann nicht mehr weit, wie das Beispiel des ‘Nationalsozialistischen Untergrunds – NSU’ gezeigt hat.”

Und Albrecht Pallas, Sprecher für Innenpolitik der SPD-Fraktion: “Sowohl der im Ländervergleich überdurchschnittlich hohe Organisationsgrad der Täter, als auch der hohe Anteil an ideologisierten Tätern zeigen, dass es verfestigte Strukturen gibt. Denen muss konstant und auf allen staatlichen und gesellschaftlichen Ebenen entgegengewirkt werden. Denn diese Täter greifen nicht nur organisiert und zielgerichtet einzelne Personen und Gruppen an, sondern auch unseren demokratischen Rechtsstaat mit seinen Institutionen. Denn immerhin in sieben Prozent der untersuchten Gewalttaten richteten sich die Angriffe gegen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte.”

Ansonsten sitzt man ja jetzt gemeinsam in der Regierung. Da schimpft man nicht übereinander. Also lobt Pallas Ulbig ein bisschen: “Der Analyse müssen nun konkrete Maßnahmen folgen. Die von Staatsminister Ulbig vorgestellten zehn Schlussfolgerungen für die Sicherheitsbehörden sind eine gute Grundlage, die nun im Einzelnen mit Leben erfüllt werden müssen. Der von CDU und SPD geschlossene Koalitionsvertrag bietet dafür eine verlässliche Basis. – Die für eine erfolgreiche Bekämpfung unerlässliche effektive Polizeiarbeit und konsequente Strafverfolgung werden wir gemeinsam mit unserem Koalitionspartner beispielsweise durch mehr Neueinstellungen bei der Polizei und in der Justiz gewährleisten. Auch die Forderung, dass im Strafvollzug alle denkbaren Anstrengungen unternommen werden müssen, um Gewalttäterkarrieren bereits im Frühstadium zu unterbinden, unterstützen wir ausdrücklich – indem wir nicht nur die Resozialisierung fördern, sondern auch entsprechende Aussteigerprogramme unterstützen.”

Und auch das steht in Ulbigs Schlussfolgerungen und Pallas findet es wichtig: “Oberstes Ziel muss jedoch sein, bereits den Einstieg in die rechtsextremistische Szene zu verhindern. Dabei kann der im Koalitionsvertrag festgeschriebene ?Sachsen-Monitor? helfen, der erstmals zum 30.06.2016 über die Entwicklung von politischen Einstellungen, über den Stand der Demokratie und besondere Entwicklungen und Gefährdungsmomente der Demokratie in Sachsen berichtet. Wir werden uns für mehr zivilgesellschaftliches Engagement einsetzen, Jugendarbeit fördern und Weltoffenheit zur Daueraufgabe machen.”

Da wird dann also weiterhin die Opposition die Arbeit machen müssen, den Innenminister beim Thema Rechtsextremismus nicht einschlafen zu lassen.

Vielleicht gibt’s ja auch einen zweiten NSU-Untersuchungsausschuss und der bekommt dann die Dokumente, die das Hannah-Ahrendt-Institut schon gelesen hat. Wer weiß.

Die Website des Landespräventionsrats: www.lpr.sachsen.de

Direkt zur Studie: www.lpr.sachsen.de/download/landespraeventionsrat/Backes_et_al_rechte-Mehrfach-Intensivtaeter_HAIT.pdf

Die Schlussfolgerungen Ulbigs für die Sicherheitsbehörden als PDF zum Download.

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