Natürlich war es nicht ein einzelnes Forschungsprojekt, das am Dienstag, 12. August, gleich zwei Ministerpräsidenten und drei Rektoren zum Besuch im Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie IZI in Leipzig veranlasste. Auch nicht nur der aktuelle sächsische Wahlkampf. Eher die Not. Auch wenn sie sich alle sehr zuversichtlich gaben. Denn 24 Jahre nach der Neugründung haben die Bundesländer in Mitteldeutschland alle ein Problem.

Sie haben zwar viel Energie in die Anwerbung von Produktionsstrecken großer Konzerne investiert, haben Milliarden in eine exzellente Infrastruktur gesteckt, haben Werke gerettet und sich verbeugt bis zum Teppichboden, um die alte Industrielandschaft wieder im Herzen finanzkräftiger Investoren zu platzieren. Doch der Blick aufs Entstandene ist ernüchternd.

Es fehlen – und das stellten am Dienstag die Ministerpräsidenten der Länder Sachsen, Stanislaw Tillich, und Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff, einhellig fest, – an komplett in der Region verankerten Verwertungsketten. Viele der wichtigsten Betriebe sind nur Teile überregionaler Wertschöpfungsketten. Die wichtigsten Umsätze werden anderswo registriert, nicht in Sachsen, Thüringen oder Mitteldeutschland. Im Gegenteil: diese Ableger sind jederzeit bedroht, wenn sich die Politik der Eignerkonzerne auch nur ein wenig verschiebt – ob im Busbau wie bei Neoplan in Plauen erlebt, in der Handyproduktion (wie bei Nokia Siemens Network), oder wie aktuell in der Druckmaschinenbranche bei Heidelberg Druck. Die Konzernleitungen sitzen nicht in der Region. Und mit den Werken verschwinden oft auch wichtige Forschungsabteilungen.

Deswegen entsteht jetzt möglicherweise das erste bundesländerübergreifende Leistungszentrum, das in der Metropolregion Leipzig/Halle so eine Wertschöpfungskette schließt.

Die Anregung dafür kam direkt vom Fraunhofer Zentrum, das deutschlandweit schon 18 solcher Leistungszentren betreibt. Das Besondere an ihnen ist, dass hier Bund, Länder und Unternehmen gemeinsam in Vorleistung gehen und Strukturen schaffen, die aus vorhandenen Industriestrukturen mit neuen Forschungszentren “so etwas Ähnliches machen wie das Silicon Valley”, sagte Reiner Haseloff am Dienstag. Es gab ja auch schon den Versuch, in der Region so etwas wie ein Solar Valley aufzubauen, zu dem am Ende doch der gute Wille der Landesregierung fehlte. Dresden wollte gern mal das Saxon Valley für die Computerbranche sein. Aber immer fehlte es an in der Region vorhandenen Strukturen, die das Ganze komplett gemacht hätten.

Das könnte jetzt mit dem Bereich Biochemie im alten mitteldeutschen Chemiedreieck erstmals anders sein.

Am Dienstag, 12. August, sagten sowohl Tillich als auch Haseloff für ihre Länder ihre Unterstützung für das neue Kooperationsvorhaben der Fraunhofer-Gesellschaft mit Wissenschaft und Wirtschaft in der Region Leipzig und Halle zu. Arbeitstitel: “Chemie und Biosystemtechnik”.

Eingebunden werden in dieses Vorhaben auch die beiden Universitäten Leipzig und Halle-Wittenberg, Hochschulen wie die HTWK und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen. Dazu die Unternehmen, die heute im Prinzip längst auf diesem Feld unterwegs sind – wie Dow Chemical oder diverse Autozulieferer. Zusammen bilden sie das Nationale Leistungszentrum “Chemie und Biosystemtechnik”.

“Wir wollen exzellente Forschung mit Lehre sowie Aus- und Weiterbildung verbinden und ein dichtes Transfer- und Wirtschaftsnetzwerk schaffen. Die Leistungszentren sollen internationale Strahlkraft erlangen”, sagte am Dienstag Professor Reimund Neugebauer, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft, der hinter den Kulissen gearbeitet hat, um dieses Projekt an die Schwelle der Umsetzung zu bringen. Das braucht natürlich zuallererst Geldgeber. 50 Prozent der Finanzierung soll vom Bund kommen, die beiden Bundesländer sollen gemeinsam 25 Prozent beisteuern. Bleiben 25 Prozent der Finanzierung offen. “Da müssen jetzt die beteiligten Hochschulen in die Spur gehen und Industrie in die Pflicht nehmen”, sagte Neugebauer. “Wenn dieser Anteil nicht kommt, wird es nichts.”

Für ihn wäre dieses neue Leistungszentrum das Anknüpfen an die alte Chemie-Tradition in der Region. “Seit über hundert Jahren ist die chemische Industrie in Mitteldeutschland fest verwurzelt. Es existiert eine außerordentliche Bandbreite an Exzellenz und Zusammenarbeit. Die kritische Masse für ein nachhaltiges und profilgebendes Cluster ist vorhanden.”Groß ist das Interesse natürlich in Sachsen-Anhalt, mit Sachsen zusammen endlich wieder ein Wirtschaftsprojekt voranzutreiben. Ministerpräsident Haseloff: “Innovationen machen nicht an Ländergrenzen halt. Die Initiative von Fraunhofer gemeinsam mit den Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Unternehmen zeigt sowohl das ausgezeichnete Forschungsniveau in der traditionsreichen Chemieregion, als auch das Potenzial zur Umsetzung von Innovationen in Produkte. Sachsen-Anhalt unterstützt die Ausbildung der Exzellenz in der angewandten Forschung durch einen länderübergreifenden Strategieansatz.”

Die von Fraunhofer initiierten Nationalen Leistungszentren sind gekennzeichnet durch ein thematisches Profil, internationale Alleinstellungsmerkmale, exzellente Forschung in Verbindung mit entsprechender Lehre und Ausbildung sowie effizientem Transfer in die Wirtschaft. Im Großraum Halle und Leipzig sollen verfahrenstechnische Prozessketten der kunststoffverarbeitenden, chemischen, biotechnologischen und biomedizinischen Industrie vom Rohstoff bis zum Produkt erforscht und optimiert werden. Hier sind acht Einrichtungen der Fraunhofer-Gesellschaft und sechs Hochschulen sowie zahlreiche Unternehmen eingebunden. Koordiniert wird das Vorhaben von Professor Frank Emmrich, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Zelltherapie und Immunologie IZI, und Professor Ralf B. Wehrspohn, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Werkstoffmechanik IWM, Institutsteil Halle.

Schon heute spielt die Biochemie eine zunehmende Rolle etwa im Automobilbau der Region. Viele Bauteile, die zuvor aus einer Chemie (und damit aus fossilen Rohstoffen) hergestellt wurden, werden immer öfter durch neue Bauteile aus Werkstoffen ersetzt, deren Grundlage nachwachsende Rohstoffe bilden. Das braucht natürlich Forschung, möglichst ohne Sperrschranke zwischen der Grundlagenforschung und der Umsetzung in neue Produkte in der Praxis.

Die Unternehmen profitieren durch die enge Vernetzung und können so Ideen und Entwicklungen rascher in Produkte umsetzen – ein Vorteil im globalen Wettbewerb.

Und Leipzig ist natürlich – mit seinem starken Standort der Biotechnologie – ein Ort, der sich geradezu anbietet als Adresse für dieses Leistungszentrum.

“Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren in punkto Innovationsfähigkeit im Länderranking gut positioniert. Zu diesem Erfolg tragen das Wissenschaftssystem, aber auch das gute Zusammenspiel von Forschung und Wirtschaft bei. Um diese Synergien auszubauen, müssen sich Grundlagen- und angewandte Forschung vielschichtiger und engmaschiger vernetzen”, betont Neugebauer. Und viele Einzelprojekte, die bislang relativ lose in der Metropolregion nebeneinander arbeiten, werden nun Teil einer Wertschöpfungskette, die die Region einmal zu einem Hotspot der modernen Materialtechnik machen könnte.

Dabei würde sich das Netzwerk nicht nur aufs engere Gebiet Halle/Leipzig beschränken, betont Neugebauer – die Forschungseinrichtungen in Magdeburg könnten genauso andocken wie die in Dresden. Da gäbe es keine Grenzziehung. Wenn’s klappt, könnte das ein neues Kapitel in der mitteldeutschen Polymer-Produktion werden. Wenn nicht, wird es eine diesmal wirklich schmerzhafte Niederlage für beide Bundesländer. Denn die Zukunft der Rohstoffindustrie liegt nicht mehr beim Import immer teurerer Rohstoffe aus Ländern wie etwa Russland, sondern in der Erzeugung hochwertiger Materialien aus den (nachwachsenden) Ressourcen des eigenen Landes. Das ändert Produkte und das ändert logischerweise auch industrielle Kreisläufe.

Jetzt kann man gespannt sein, ob die angefragten Unternehmen aus der Region auch mitmachen.

Die jetzt schon feststehenden Kooperationspartner des Nationalen Leistungszentrums “Chemie und Biosystemtechnik”

– Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik IWM, Institutsteil Halle
– Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie IZI, Leipzig
– Fraunhofer-Institut für Angewandte Polymerforschung IAP, Potsdam-Golm
– Fraunhofer-Zentrum für Mittel- und Osteuropa MOEZ, Leipzig
– Fraunhofer-Zentrum für Chemisch-Biotechnologische Prozesse CBP, Leuna
– Fraunhofer-Center für Silizium-Photovoltaik CSP, Halle
– Fraunhofer-Projektgruppe Molekulare Wirkstoffbiochemie und Therapieentwicklung MWT des Fraunhofer IZI, Halle
– Fraunhofer-Pilotanlagenzentrum für Polymersynthese und Polymerverarbeitung PAZ, Schkopau
– Universität Leipzig
– Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
– Brandenburgische TU Cottbus-Senftenberg
– Hochschule Anhalt (FH), Köthen
– Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (FH)
– Hochschule Merseburg (FH)
– Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle

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