Da waren selbst die Grünen überrascht, als sie auf Seite 46 des am 23. Oktober von CDU und SPD vorgestellten Koalitionsvertrages eins ihrer Herzensprojekte wiederfanden: "Unser Ziel ist es, den Schienengebundenen Personennahverkehr (SPNV) durch eine bessere Koordination und Bündelung bei der Ausschreibung von Verkehrsleistungen, durch die Einführung eines integralen Taktfahrplanes und eines landesweit gültigen Sachsen-Tarifs zu stärken", steht da zu lesen.

Und eigentlich noch eine Menge mehr. Ein Koalitionsvertrag formuliert ja erst einmal nur Zielsetzungen, auch wenn die Formulierungen dann meist schon sehr deutlich sagen, wohin die Reise gehen soll – und was man an der letzten Koalitionsregierung in Sachsen völlig daneben fand. Und die war nun einmal stark durch das technokratische Politikverständnis der heutigen FDP geprägt. Entsprechend fiel dann ja auch die Kritik des sächsischen FDP-Vorsitzenden Holger Zastrow am Koalitionsvertrag aus: Banal findet er das Papier, einem “linken Zeitgeist” geschuldet.

Das Papier ist in weiten Teilen in keiner Weise banal. Deswegen wird der Koalitionsvertrag von CDU und SPD nun seit Tagen so intensiv kritisiert und diskutiert, wie es der Koalitionsvertrag von FDP und CDU 2009 nicht ansatzweise wurde. Leider, kann man im Nachhinein sagen, denn Vieles, was jetzt im SPD/CDU-Vertrag steht, ist eine späte und höchst notwendige Korrektur dessen, was der Freistaat nun seit fünf Jahren an Politik erlebt. (Nebenbei erwähnt: Es wird nicht alles korrigiert – vielleicht reichte dazu einfach die Kraft nicht. Man denke nur an das novellierte Wassergesetz oder die Abschaffung der Baumschutzsatzung.)

Das Koalitionspapier konterkariert übrigens auch das gerade erst vom Mitteldeutschen Verkehrsverbund (MDV) vorgelegte Gutachten zur künftigen Finanzierung des MDV, das in seiner verzweifelten Suche nach neuen Finanzierungen geradezu panisch wirkt. Dabei sind die Löcher in den Finanzierungen der Verkehrsträger im MDV nicht aufgeklafft, weil irgendwelche Kosten exorbitant aus dem Ruder gelaufen wären, sondern weil die wichtigsten Zuschussgeber den Öffentlichen Nahverkehr in den letzten Jahren drastischen Finanzkürzungen unterzogen haben. Bislang wurde das dadurch aufgefangen, dass die Fahrpreise jedes Jahr kräftig angehoben wurden. Aber das geht so nicht mehr. So schafft man keine modernen und nachhaltigen ÖPNV-Strukturen. Und so steht unterm Thema “Verkehr” im Koalitionsvertrag nun auch endlich ein Umsteuern – weg von der “Verschlankungspolitik” der FDP-Ära hin zu einer vernünftigen und vor allem zukunftsfähigen ÖPNV-Finanzierung. Denn wer keine Strategie hat, weiß gar nicht, was er da eigentlich “verschlankt”.

Im Koalitionsvertrag ebenfalls auf Seite 46:

“Vor diesem Hintergrund und angesichts der demografischen Herausforderungen sowie der sich verändernden Finanzierungsgrundlagen werden wir eine Strategiekommission für den sächsischen ÖPNV/SPNV ins Leben rufen, die eine Gesamtstrategie für einen weiterhin leistungsfähigen öffentlichen Verkehr im Freistaat entwickeln soll. Die Strategiekommission soll insbesondere den Mittelbedarf für die Grundversorgung mit ÖPNV-Leistungen und den korrespondierenden Investitionsbedarf ermitteln. Sie soll darüber hinaus Lösungsansätze zur Sicherstellung der ÖPNV-Erreichbarkeiten erarbeiten, Optimierungsmöglichkeiten der Organisationsstrukturen im sächsischen ÖPNV/SPNV aufzeigen und Lösungsvorschläge zur Harmonisierung der Tarif- und Beförderungsbestimmungen im Freistaat Sachsen unterbreiten.”

Das geht deutlich über das hinaus, was das vom MDV vorgelegte Gutachten überhaupt vorschlägt. Erst muss man wissen, wie zukunftsfähige Strategien aussehen – dann erst kann man über die Finanzierung reden.

Und genauso ist es beim regionalen Zugverkehr. Auch dort hat die schwarzgelbe Regierung die Mittel für die Aufgabenträger – die jeweiligen Zweckverbände – drastisch beschnitten. Auch das ohne sichtbare Strategie. Das war die Phase, als die Grünen im Land massiv warben für einen wirklich integrierten Fahrplantakt. Denn dann erst wird Bahnfahren wirklich attraktiv – wenn die Anschlüsse klappen, die Verbindungen schnell und gut verknüpft sind. Das, was Sachsen derzeit hat, ist ein Flick- und Schusterwerk, bei dem wichtige Unter- und Mittelzentren schlecht bis unsinnig eingebunden sind, Anschlüsse nicht einmal in den Oberzentren schlüssig sind. Einziger Lichtblick ist das 2013 eröffnete Mitteldeutsche S-Bahn-Netz, das aber wie ein Solitär in der Landschaft steht. Wichtige Strecken sind völlig überlastet, auf anderen rollen die Züge ins provinzielle Nirwana.

Es braucht jetzt im Grunde einen Kraftakt, um das sächsische Regionalnetz tatsächlich zukunftsfähig zu machen.
“Für ein Integralen Taktfahrplan in Sachsen brauchen wir zehn Jahre lang mindestens 50 Millionen Euro Investitionen”, kommentiert Eva Jähnigen, verkehrspolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Sächsischen Landtag, den vorgelegten Koalitionsvertrag im Bereich Verkehr. “Ich habe mich gefreut, im Vertrag von CDU und SPD unsere Grünen-Projekte Sachsentakt und Sachsentarif wiederzufinden. Die Verwendung der Begriffe garantiert aber leider noch keine Umsetzung. Bei der Frage nach konkreten Umsetzungsschritten und der finanziellen Untersetzung bleibt der Koalitionsvertrag bisher die Antwort schuldig.”

Das war einer der Punkte, den die Grünen in der vergangenen Woche als reine Prüfungszusage kritisierten. Die Latte für den neuen Verkehrsminister hängt also hoch. Vielleicht wird es ja auch einmal eine Ministerin. Das wäre dann auch ein sichtbarer Wechsel im Politikstil, wenn Frauen nicht mehr nur die “weichen” Themenfelder ministrieren (Soziale, Bildung, Kultur), sondern auch einmal die technischen Ressorts bekommen. Denn unter den Ergebnissen leiden am Ende alle, wenn männliche Engstirnigkeit keinen Sinn hat für ein funktionierendes Ganzes.

“So soll der Netzausbau für einen Integrierten Taktfahrplan lediglich geprüft werden. Ohne Investitionen wird es allerdings keinen Sachsentakt geben können”, kommentiert Eva Jähnigen. “In unserem Grünen-Masterplan ‘Sachsentakt 21’ haben wir jährliche Investitionskosten von mindestens 50 Millionen Euro für die nächsten zehn Jahre kalkuliert.”

Das große Geld aber hat der scheidende Verkehrsminister für ganz andre Schienenprojekte vorgesehen. Und CDU und SPD haben die teuersten davon in ihren Koalitionsvertrag mit übernommen. Jähnigen: “Hingegen sprechen sich CDU und SPD für die mindestens 2 Milliarden Euro teure Neubaustrecke Dresden – Prag mit Erzgebirgstunnel aus – ganz ohne Prüfung. Hier zeigt sich, dass Schwarz-Rot an alten Prioritäten und Prestigeprojekten festhält.”

“Auch die von CDU und SPD angekündigte verstärkte Weiterreichung der Regionalisierungsmittel an die ÖPNV-Zweckverbände garantiert noch keine Verbesserung”, erläutert die Abgeordnete. “Denn es ist zu befürchten, dass vom Bund dafür künftig weniger Geld an Sachsen überwiesen wird. Damit tatsächlich mehr Geld aus den Regionalisierungsmitteln bei den Zweckverbänden ankommt, fordern wir Grünen, den Ausbildungsverkehr und Schwerbehindertentransporte nicht mehr aus diesen Bundesmitteln querzufinanzieren, sondern dafür eigene Landesmittel zu nutzen.”

Und eine andere Schieflage ist auch noch nicht behoben: Das für Schienenverkehr vom Bund bereitgestellte Geld aus den Entflechtungsmitteln fließt in Sachsen zum großen Teil in Straßenbau.

“Von den 88 Millionen Euro, die Sachsen aus einem zweiten Bundestopf an Entflechtungsgeldern jährlich für kommunale Verkehrsinfrastruktur erhält, werden aktuell nur 14,7 Prozent und damit nur 13 Millionen Euro für den ÖPNV genutzt, der Rest – immerhin 86,3 Prozent – fließt aktuell komplett in den Straßenbau”, benennt Jähnigen diesen kontraproduktiven Verschiebebahnhof. “Mit diesem geringen Anteil von 14,7 Prozent der Mittel für Bus und Bahn ist Sachsen bundesweites Schlusslicht. Zu diesem Verteilerschlüssel schweigen SPD und CDU im Koalitionsvertrag. So ist zu befürchten, dass sich hier nichts bewegen wird. Das ist enttäuschend. Der schwarz-roten Regierungskoalition 2004-2009 waren Bus und Bahn wenigstens noch 25 Prozent der Gelder wert. Wir Grünen wollen künftig mit 61,6 Millionen Euro jährlich 70 Prozent der Entflechtungsgelder für Investitionen in Bus und Bahn umlenken.”

Und dann ist da auch noch das Thema Bezahlbarkeit. Wer kann sich Bahnfahren überhaupt noch leisten, wenn die Preise immer weiter steigen?

Eva Jähnigen: “Das geplante Bildungsticket für Schülerinnen und Schüler, sowie Auszubildende als erstes einheitliches und sachsenweites ÖPNV-Angebot begrüßen wir sehr. Wir brauchen aber dringend ein ähnliches Mobilitätsticket für Menschen mit geringem Einkommen. Mobilität ist für die Teilhabe an der Gesellschaft eine unverzichtbare Voraussetzung, die dank der weiter gestiegenen Ticketpreise für Arme zum Luxus zu werden droht.”

Der Masterplan der Grünen “Sachsentakt 21. ‘Häufiger – Schneller – Bezahlbar! Qualitätsoffensive für den Bahnverkehr in Sachsen” (Stand: Mai 2014):

www.mobiles-sachsen.de/fileadmin/user_upload/radfahren/Sachsentakt21/sachsentakt21_2014.pdf

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