Was zu knapp bemessen ist, ist zu knapp bemessen. Und das Mitteldeutsche S-Bahn-Netz ist es augenscheinlich - auf den zwei wichtigsten Strecken auf jeden Fall. Das kritisiert jetzt wiederholt der Fahrgastverband Pro Bahn e.V. In Halle hofft die Bahn, die das Netz betreibt, das Problem mit einer neuen Wagenhalle in den Griff zu bekommen.

Am Donnerstag, 30. April, weihten Thomas Webel, Minister für Landesentwicklung und Verkehr des Landes Sachsen-Anhalt, Dr. Bernd Wiegand, Oberbürgermeister der Stadt Halle, Alexander Kaczmarek, Konzernbevollmächtigter der Deutschen Bahn für das Land Sachsen-Anhalt, und Frank Klingenhöfer, Vorsitzender der DB Regio Südost, die neue Werkstatthalle für die Elektrotriebwagen der S-Bahn Mitteldeutschland feierlich ein.

Für 4 Millionen Euro entstand in einer Bauzeit von acht Monaten eine 112 Meter lange, 13 Meter breite und 8 Meter hohe moderne Werkstatt für die Instandhaltung und Reparatur der S-Bahn-Züge. Die neue Werkhalle ist so ausgelegt, dass dort künftig alle 80 drei-, vier- und fünfteiligen Fahrzeuge gewartet, instandgehalten und repariert werden können. Auf drei Arbeitsebenen – auf dem Dach, ebenerdig und unter dem Fahrzeug – können die Mitarbeiter künftig gleichzeitig die notwendigen Arbeiten ausführen.

„Mit dem Neubau dieser Werkstatt ist die Deutsche Bahn auf dem richtigen Weg, die Anforderungen des Landes zu erfüllen“, sagte Webel.

Und Frank Klingenhöfer voller Zuversicht: „Mit den entstandenen erweiterten Instandhaltungskapazitäten können wir die zeitweilig bestehenden Fahrzeugengpässe reduzieren und unsere Spitzenposition der S-Bahn Mitteldeutschland in der Kundenzufriedenheit weiter ausbauen.“ Die Kundenzufriedenheit ist tatsächlich hoch. Doch immer wieder fehlen Wagenzüge im Netz, weil sie beschmiert wurden und aufwändig erst gereinigt werden müssen. Die neue Halle soll auch die Beseitigung der wilden Graffiti beschleunigen.

Die neue,  für 4 Millionen Euro gebaute Werkstatthalle für das mitteldeutsche S-Bahn-Netz in Halle. Foto: DB Regio
Foto: DB Regio

Gerade auf den Kursen S 3 und S5X, die beide von Leipzig nach Halle führen, kommt es aber immer wieder zu Engpässen. Die Planer haben eindeutig unterschätzt, wie nachgefragt dieses Herzstück des Mitteldeutschen S-Bahn-Netzes ist. Man ist zwar mittlerweile dazu übergegangen, die Züge vorwiegend in Doppel-Traktion zu fahren. Aber trotzdem sind die Bahnen im Tagesverkehr immer wieder überfüllt. Noch ein Jahr mit den viel zu knapp berechneten Kapazitäten will der Pro Bahn e. V. nicht erleben und fordert die sofortige Änderung der Triebwagengrößen im Berufsverkehr auf den S-Bahnlinien S3 und S5X.

“Die täglichen Überfüllungen sind inzwischen zu einem absolut unhaltbaren Zustand angewachsen. Dass Fahrgäste auf nur halbstündlichen Linien aufgrund der Überlastung nicht mehr einsteigen können, kann keinesfalls länger geduldet werden”, sagt dazu Carsten Schulze, Vorstand des Pro Bahn-Landesverbandes Mitteldeutschland. “Es ist keine Neuigkeit, dass die Bemessung der Fahrzeuggrößen durch den ausschreibenden Zweckverband Nahverkehrsraum Leipzig (ZVNL) viel zu pessimistisch erfolgte und die Nachfrage längst die Kapazität der eingesetzten Triebwagen übersteigt. Erschwerend kommen Engpässe durch Technikprobleme und vor allem durch Vandalismus (Farbattacken) hinzu. Die kleinen 3- und 4-teiligen Talent-Triebwagen (für jeweils 150 bzw. 200 Fahrgäste) bewältigen den Andrang nicht ansatzweise. Regelmäßig können vor allem auf den Strecken von und nach Halle nicht alle Reisenden einsteigen.”

Ein Kauf weiterer Fahrzeuge sei nicht geplant, verlautbarte die Bahn erst jüngst wieder.

Aber so torpediert man ein Projekt, das als einziges seit nunmehr 20 Jahren wirklich den Wirtschaftsraum Leipzig/Halle auch als solchen verbindet. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten ist die Verbindung Halle-Leipzig auch auf dem Stand der Technik. Doch dass man mit den viel zu klein berechneten Kapazitäten auch noch weitere wirtschaftliche Negativ-Effekte auslöst, scheint die Planer nicht zu beeindrucken.

“Überfüllungen verursachen Verspätungen, weil das Aus- und Einsteigen erheblich länger dauert als der Fahrplan für den Halt an den Stationen vorsieht. Die Verspätungen übertragen sich auch auf andere S-Bahnen, weil das Gleisnetz viel zu viele Engpässe und eingleisige Abschnitte aufweist”, malt Schulze die üblichen Folgen aus, die auch alle auf die Entscheidung von Pendlern rückwirken, die Strecke zwischen den Großstädten entweder mit der S-Bahn oder doch wieder mit dem Pkw zurückzulegen. Bahn-Politik, wie sie hier praktiziert wird, ist eindeutig auch negative ÖPNV-Politik. Schulze über die Rückwirkungen auf’s S-Bahn-System: “Jedoch kann ein S-Bahnnetz, welches im Zentrum Leipzigs alle Linien im 5-Minuten-Takt bündelt, dann nicht mehr pünktlich betrieben werden. Auch weniger ausgelastete Linien sind beeinträchtigt und die wichtige Investition der Stammstrecke verpufft in ihrer Wirkung für die Region. Das kann und darf nicht hingenommen werden.”

Und – welch eine Überraschung – die Hauptprobleme treten im Berufsverkehr auf. München lässt grüßen. Carsten Schulze: “Ein konkretes Auslastungsproblem hat die S-Bahn S3, welche um 7:22 Uhr von Stötteritz nach Halle fährt. Dieser Zug wird aus einer vorher in Stötteritz angekommenen doppelten Triebwageneinheit gebildet, indem einer der beiden Triebwagenteile zur kurzen S1 zum Messegelände wird und der andere zur erwähnten S3. Beide Züge um diese Hauptverkehrszeit bestehen deshalb aus einzeln fahrenden kleinen Triebwagen. Die Nachfrage der S3 im Berufsverkehr Richtung Schkeuditz und Halle ist wesentlich größer, als ein dreiteiliger Talent fassen kann. Kommt es unabhängig davon zu Verspätungen auf der kurz zuvor auch nach Halle fahrenden S5x, müssen deren Fahrgäste ebenfalls in dieser S3 unterkommen. Das Fassungsvermögen von lediglich 150 Menschen reicht dann absolut nicht aus, etwa die doppelte Menge wird benötigt.”

Dabei kennen die Verantwortlichen von ZVNL und Deutsche Bahn die Probleme nach über einem Jahr Betrieb eigentlich. Nur sie reagieren nicht adäquat und glauben, das Problem mit schnellerer Wartung der vorhandenen Wagenzüge lösen zu können.

“Der hausgemachte Fahrzeugmangel ist eine der grundlegenden Ursachen, für die S3 ist es zusätzlich die Fehlentscheidung, ausgerechnet zu Zeiten der größten Nachfrage mit der Halbierung der Kapazität zu beginnen. Wenn dies betrieblich schon nötig ist, dann muss das später am Vormittag in die Fahrpläne eingearbeitet werden. Betriebsabläufe organisiert der Betreiber selbst, hier die DB Regio AG”, benennt Schulze Ross und Reiter.

Ausdrücklich fordere der Fahrgastverband Pro Bahn deshalb die DB Regio AG auf, sich zu diesen unhaltbaren Zuständen zu positionieren und umgehend für Abhilfe zu sorgen. Gleichzeitig gehe die Forderung an den bestellenden ZVNL, gemeinsam mit den anderen Aufgabenträgern des S-Bahnnetzes in Planungen für eine umfassende Fahrzeugnachbestellung zu treten.

“Mittelfristig können Engpässe nur durch zusätzliche Fahrzeuge vermieden werden. Dafür nötige Zeiträume von durchaus 5 bis 10 Jahren dürfen nicht erst abgewartet werden, ob die Nachfrage wirklich steigt. Denn bis dahin platzt das S-Bahnnetz an weiteren Stellen aus allen Nähten. Deutliches Bevölkerungswachstum und große Bauprojekte entlang der übervollen Linien zwingen zum Handeln”, sagt Schulze. “Jetzt!”

Aber in Halle träumt man noch.

Halles OBM Dr. Bernd Wiegand am Donnerstag noch ganz im Feierton, als wäre das neue S-Bahn-Netz gerade erst in Betrieb gegangen: „Die Investitionen der Deutschen Bahn stärken den Wirtschaftsstandort Halle und die Europäische Metropolregion Mitteldeutschland in besonderem Maße. Dazu tragen neben der neuen Werkstatthalle auch der Neubau der Zugbildungsanlage, die Modernisierung des Hauptbahnhofes und die Anbindung an das ICE-Netz Berlin-München bei.“

Dabei wurde die S-Bahn Mitteldeutschland im Dezember 2013 in Betrieb genommen. DB Regio Südost hat etwas über 200 Millionen Euro in 51 moderne Fahrzeuge der Baureihe Talent 2 investiert, von denen bisher 50 Fahrzeuge vom Hersteller ausgeliefert wurden. Mit der Erweiterung des mitteldeutschen S-Bahnnetzes 2015/2016 sollen dann für 146 Millionen Euro weitere 29 Triebwagen bestellt werden. Damit können auch Bitterfeld, Dessau-Roßlau, Lutherstadt Wittenberg und weitere Verbindungen bis nach Magdeburg in das S-Bahnnetz integriert werden, meldet die DB Regio.

Aber damit wird das Netz natürlich noch attraktiver und auf dem Herstück Leipzig/Halle liegt noch mehr Last. Vielleicht sollte die DB Regio auch im Eigeninteresse auf die Mahnung des Pro Bahn e.V. hören. Und wenn tatsächlich ein paar kluge Planer in den Leitstellen sitzen, dürfte es auch bald an der Zeit sein, gerade im Berufsverkehr eine Taktverdichtung zwischen den Großstädten einzuplanen.

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