In der Betriebszentrale der Deutschen Bahn in der Brandenburger Straße erscheint die Neubaustrecke von Leipzig und Halle nach Erfurt bereits wie alle anderen Strecken im Steuerungsbezirk. Die 123 Kilometer lange Hochgeschwindigkeits-Trasse ist auf mehreren hochauflösenden Bildschirmen in einzelne Abschnitte unterteilt, die - hintereinander gruppiert - die Gesamtheit der Brücken, Tunnels, Betriebsbahnhöfe und Weichenstraßen abbilden.

300 Kilometer pro Stunde fahren hier im Moment allenfalls die Probezüge. Doch ab dem 13. Dezember sollen planmäßige ICEs der Leipziger Schnellverkehrsgeschichte ein völlig neues Kapitel hinzufügen. Nicht die schnellere Erreichbarkeit der Thüringer Landeshauptstadt ist das vordergründige Ziel, sondern die Inbetriebnahme eines eminent wichtigen Streckenneulings in der Mitte Deutschlands, um erheblich schneller als heute wichtige Eisenbahnknoten im europäischen Netz zu erreichen. Von derzeit einer runden Stunde soll die ICE-Fahrzeit zwischen Leipzig und Erfurt auf etwa 40 Minuten sinken. Und dieser Fahrzeitgewinn wird weitergegeben an den Knoten Frankfurt/Main und von dort nach Köln und nach Brüssel und nach Basel und nach Paris. Der europäische Eisenbahnfahrplan 2016 hängt davon ab, dass das mitteldeutsche Mittelstück des Verkehrs-Großprojekts pünktlich in Betrieb geht.

Wie stehen die Chancen, dass es zeitgerecht gelingt?

Fahrdienstleiter Steffen Lämmerzahl meldet sich am Diensttelefon mit “Fahrdienstleiter Neubaustrecke.” Knapp fünf Wochen vor der Inbetriebnahme der Hochgeschwindigkeitstrasse hat er es am Anfang der Woche nur mit langsamen Bauzügen zu tun, die abschließende Arbeiten rund um die neue Magistrale erledigen. Schnell muss das gehen, ohne Abstriche an der Qualität. Am nächsten Tag zischen die Probe-ICEs wieder durch die Tunnel-Brücke-Tunnel-Kaskade, die auf der kürzesten aller denkbaren Trassen fast schnurgerade in die wellige mitteldeutsche Landschaft eingepasst wurde. Äußerlich geht es ruhig zu in der Betriebszentrale. Dabei besteht kein Mangel an Projektschritten, die noch zu erledigen sind, ehe die endgültige Betriebsgenehmigung erteilt werden kann.

Denn die Brücken, darunter die acht Kilometer lange Riesenkonstruktion quer durch die Saale-Elster-Aue als einsame Rekordhalterin aller deutschen Eisenbahnbrücken, waren es, die im Sommer noch einmal Zweifel der Aufsichtsbehörde aufkommen ließen. Die Oktober-Ausgabe 2015 der Mitarbeiter-Zeitung “DB Welt” der Deutschen Bahn widmete dem Vorgang eine Zeile. “Zudem laufen Restbauarbeiten” erfuhr der Leser über eine zusätzliche strenge Auflage des Eisenbahn-Bundesamtes, die zügig erledigt sein musste, damit der gesamte Fahrplan nicht ins Wanken gerät. 24 Jahre Planungs-, Projektierungs- und Bauzeit verdichteten sich bis zum fixierten Inbetriebnahmetermin auf zwölf Wochen notwendiger Anbauten.

Die gewaltige Brückenkonstruktion im Unstruttal - hier während des Baus. Foto: Matthias Weidemann
Die gewaltige Brückenkonstruktion im Unstruttal – hier während des Baus. Foto: Matthias Weidemann

Die neuen Brücken sind Preisträger. Für ihre Architektur räumten sie längst angesehene Auszeichnungen ab, obwohl noch gar kein Zug darüber gefahren war. Für das Eisenbahn-Bundesamt sind jedoch andere Qualitäten entscheidend als pure Ästhetik. Denn die mächtigen T-förmigen Brückenstützen bilden mit der Fahrbahn, die sie tragen, eine Kombination aus Beton, der vor Ort in die Schalungen floss, sowie aus angelieferten Fertigteilen. Jede Unebenheit im Grenzbereich zwischen diesen beiden Bauwerks-Komponenten wird durch eingebrachten Spezialbeton ohne Armierungsstahl ausgeglichen.

Dort liegt der Hase im Pfeffer, denn bei der imposanten Neubaustrecke gingen die Verantwortlichen davon aus, dass das Modernste gerade gut genug ist. Die Genehmigungsbehörde verlangt aber den Nachweis der Dauersicherheit. In der Kürze der verbleibenden Zeit war für die erforderliche Genehmigung der fertigen und getesteten Strecke – allseits akzeptiert – nur der “Nachweis der gleichen Sicherheit” nach baulichen Anpassungen realisierbar, erklärte Dr. Volker Kefer, Infrastrukturvorstand der DB.

Das Eisenbahn-Bundesamt erteilte Auflagen, und die Lösung auf den fertigen Brücken sollen im Abstand von zehn Metern ein bis 1,2 Meter breite, zusätzliche Betonplatten bringen, mit denen die Fahrbahnkonstruktion seitlich stabil eingefasst wird. Kostenpunkt? “Liegt im niedrigen Millionenbereich”, sagen eingeweihte DB-Manager, die zugleich betonen, das gesamte Investitionsbudget würde dadurch nicht überschritten.

Kosten, Neuheiten, modernste Technik

Bahnintern heißt das Projekt VDE 8.2 – der zweite, mittlere Abschnitt des Verkehrsprojekts Deutsche Einheit Nr. 8. Alle drei Abschnitte zwischen Berlin und Leipzig bzw. Halle und weiter über Erfurt bis kurz vor Nürnberg kosten zusammen mehr als zehn Milliarden Euro. Dafür bekommt man eine Menge hochmoderne Infrastruktur, und für lange Zeit wird hierzulande wohl kein anderes Bauprojekt dieser Größenordnung mehr angefasst. Weil ein solches Jahrhundert-Vorhaben aber nicht einfach bisherige Strecken kopieren soll, fiel die Entscheidung in puncto Betrieb folgerichtig für die neueste technische Lösung. Sie heißt ETCS – European Train Control System und bedeutet nach außen, dass die Strecke ohne Signale, die am Gleis stehen, auskommt. Alle notwendigen betrieblichen Informationen werden dem Triebfahrzeugführer auf sein Display im Führerstand gesandt. Elektronik lässt den klassischen Weichenhebel als archaisches Relikt der vordigitalen Epoche erscheinen. In der Leipziger Betriebszentrale bewegt sich stattdessen das Zugsymbol als leuchtender Punkt über die Linien des elektronischen Streckenschemas.

“Fahrdienstleiter Erfurt Güterbahnhof” – das ist kein Anruf aus Thüringen, sondern die Stimme des Kollegen im Rücken von Fahrdienstleiter Lämmerzahl in der Leipziger Betriebszentrale. Die Bahnanlagen draußen mit allen Gleistrassen, Bahnhöfen, abzweigenden Schienenwegen, Rangier- und Abstellanlagen in weit über hundert Kilometer Umkreis um Leipzig sind auf halbkreisförmige Gruppen von Bildschirmen verdichtet. Ein Fahrdienstleiter steuert die bisherige Trasse, der andere die neue, kommende. Der Dienstplan ist so gestrickt, dass die Netz-Spezialisten tageweise zwischen den verschiedenen virtuellen Abbildern einzelner Trassen pendeln. Fahrdienstleiter müssen mehrere Strecken kennen und im Wechsel steuern können. Seit dem Frühjahr 2015 wird auf dem elektronischen Abbild der Neubaustrecke der praktische Betrieb in Tests simuliert und mit Probezügen draußen “erfahren.”

“Das neue System der Zugsteuerung arbeitet zuverlässig”, erklärt Jens Jäger von DB Netz. Vom Eisenbahn-Bundesamt werden in der Erprobungsphase komplexe, abgestufte Forderungen gestellt, ehe die Genehmigung kommt. Eine dieser Forderungen lautet, im Probebetrieb nicht zuletzt die Zugfolge zu testen, also die konkrete Situation, dass mehrere Züge im Abstand hintereinander zum Beispiel zwischen Leipzig und Erfurt auf der neuen Trasse unterwegs sind.

Die Streckeneröffnung als “Gesamtkunstwerk”

Bevor die Neubaustrecke von Leipzig nach Erfurt pünktlich zum Wechsel auf den Jahresfahrplan 2016 am 13. Dezember 2015 in Betrieb geht, findet die feierliche Eröffnung bereits am 9. Dezember statt. Am Programm wurde lange gearbeitet. (Verkehrs-)Politik, Technikfaszination und Bahn-Fluidum des 21. Jahrhunderts sollen sich zu einem Gesamtkunstwerk verdichten. Vormittags setzt sich der Premieren-ICE ab Halle in Doppeltraktion nach Erfurt in Bewegung. Aus der Thüringer Kapitale startet dann ein zweiter Zug mit viel Prominenz zur Rückfahrt, die nunmehr nach Leipzig führen wird.

Beide Eröffnungszüge werden parallel unterwegs sein. Grandioses Kino für alle, die sich gern dem Genuss einer schnellen Bahnreise hingeben. Eine Dreiviertelstunde nach der Abfahrt in Erfurt – ungefähr im zeitlichen Rahmen des kommenden Fahrplans auf der Neubaustrecke – treffen die Fest-Züge zur eigentlichen Feierstunde auf dem Leipziger Hauptbahnhof ein.

Hundert Jahre und fünf Tage nach der offiziellen Eröffnung der Riesenstation werden die Weichen für ein neues Kapitel im Leipziger Fernverkehr auf der Schiene gestellt. Elektronisch, versteht sich.

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