Ein Wertewandel führt für Michaela Kostov, Vorstand der Vereinigten Leipziger Wohnungsgenossenschaft VLW, zur Renaissance der Genossenschaftsidee. Ein L-IZ-Interview über Wohnungsgenossenschaften heute, die Entwicklung von Identität und die Pflege von Geschichte. Ein Erinnern an das Lokal Pantheon stünde Leipzig gut zu Gesicht, so Kostov.

Frau Kostov, Häuser haben mitunter eine besondere Geschichte. Wie viel Zeit bleibt Ihnen als Vorstand einer Wohnungsgenossenschaft, sich geschichtlicher Tradition zu widmen?

Ich bin seit 2009 Vorstand einer der traditionsreichsten Wohnungsgenossenschaften Sachsens. Die Vorläuferin der Vereinigten Leipziger Wohnungsgenossenschaft eG wurde bereits 1922 im Städtischen Kaufhaus zu Leipzig gegründet. Sich mit den Wurzeln, den Ideen und Visionen unserer Gründungsväter zu beschäftigen, ist eine Grundvoraussetzung, um genossenschaftliche Geschichte zu verstehen.

Ich halte es da mit einer alten chinesischen Weisheit: ” Wer die Zukunft erforschen will, muss die Vergangenheit kennen”. Gegenwart und Zukunft der VLW zu gestalten, das ist meine Aufgabe und deshalb nehme ich mir auch die Zeit für die Vergangenheit.

Welche Erkenntnisse liefert denn der Blick in die Geschichte der VLW?

Von unseren 6.800 Wohnungen befinden sich 2.940 Wohnungen – 43 Prozent – in Gebäuden, die bereits vor 1949 errichtet wurden. Viele von ihnen entwarf der Leipziger Architekt Fritz Riemann.

Er stand damals vor der Herausforderung, Wohnungen zu errichten, die den unterschiedlichen sozialen Verhältnissen der Mitglieder entsprachen – kleine Wohnungen für den kleinen Geldbeutel, großzügigere für Genossenschaftsmitglieder, die sich mehr leisten können und wollen.

Eine Herausforderung mit hoher Aktualität, die meine Arbeit als Vorstand auch heute täglich begleitet.Das seinerzeit neu gebaute Gebäudeensemble Gerichtsweg/ Dresdner Straße befindet sich seit Mitte der 1980er Jahre im Bestand der VLW: Inwiefern ist für Sie die Vorgeschichte des Karrees von Interesse?

Der VLW gehört das Gebäude Gerichtsweg 2 mit 78 Wohnungen. Es wurde im Rahmen des komplexen Wohnungsbaus durch den damaligen HAG, den Hauptauftraggeber, errichtet. Auf den ersten Blick ein unsanierter Plattenbau, über den es nicht viel zu berichten gibt, aber trotzdem wünschen wir uns, dass unsere Mitglieder eine eigene Identität für den Ort, an dem sie wohnen, entwickeln.

Das erste Mal ist uns das 2011 mit der Modell-Wohnung gelungen. Unsere Genossenschaft wurde dafür mit dem Telematik-Award 2011 ausgezeichnet. Das erfüllte die Bewohner des Hauses durchaus mit Stolz. Die Wohnung wird seither als Gästewohnung an Mitglieder von Wohnungsgenossenschaften aus ganz Deutschland vermietet.

Eine Geschichte zum historischen Standort zu erzählen, würde das Bild an dieser Stelle abrunden.

Vor dem Haus Gerichtsweg 2 erstreckt sich das Grundstück Dresdner Straße 20. Hier stand bis in die 1970er Jahre das Pantheon. Es war Vergnügungslokal, Tagungsstätte und Gründungsort von Frauenorganisationen, der Sozialdemokratie und von Gewerkschaften. Kann man darüber einfach mit einer grünen Wiese hinweggehen?

Ich denke, es würde der Stadt Leipzig gut zu Gesicht stehen, mit einer Gedenktafel oder einem Gedenkstein an den Ort der Gründung von Deutschlands erster Arbeiterpartei, dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, vor ziemlich genau 150 Jahren zu erinnern.

Frau Kostov, Genossenschaften symbolisieren einen recht erfolgreichen “Dritten Weg” zwischen Staat und Markt. Worauf führen Sie die Renaissance des Genossenschaftsgedankens in diesen Zeiten zurück?

Wohnungsgenossenschaften bieten ihren Mitgliedern ein sicheres und bezahlbares Wohnen. Bei ihnen gilt: Mitglied gleich Eigentümer, und daher handeln sie nicht im Interesse fremder Kapitalgeber, sondern ihrer Mitglieder. Genossenschaften sind gerade auch wegen dieses Identitätsprinzips die insolvenzsicherste Unternehmensform in Deutschland.

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Bei Genossenschaften zahlen die Mitglieder keine Miete, sondern eine Nutzungsgebühr. Im Gegenzug wird ihnen ein lebenslanges Wohnrecht bei der Genossenschaft garantiert.

In Zeiten, wo über den sich andeutenden Wohnungsmangel in Großstädten und rasant steigende Mieten eine breite öffentliche Diskussion beginnt, beobachten wir ein steigendes Interesse von gerade jungen Menschen an genossenschaftlichem Wohnen – 60 Prozent unserer Neumitglieder der letzten Jahre sind unter 40 Jahre alt.

Worauf führen Sie das zurück?

Ich glaube, dass in der Gesellschaft, beeinflusst durch die Finanzmarktkrise, das schwindende Vertrauen in Politik und dem großen Wunsch nach Stabilität, ein Wertewandel stattfindet. Wohnungsgenossenschaften bieten ein sicheres Zuhause und für diejenigen, die es wünschen, Unterstützung in allen Lebenslagen und Lebensphasen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Ursprünge der Genossenschaftsbewegung liegen in Nordsachsen. Sie sind mit dem Reformer Hermann Schulze-Delitzsch (1808 – 1883) verbunden. Mehr über ihn demnächst hier an dieser Stelle.

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