Es wird ja viel diskutiert über Minderheiten in Deutschland. Zumeist von Leuten, die glauben, dass sie die Mehrheit sind. Weil sie sich in der Regel partout nicht vorstellen können, wie es ist, aus der Reihe zu tanzen, geborene Mitläufer und Seilschaftler, um mal den jüngst erschienenen Roman "Das Seil" von Stefan aus dem Siepen zu erwähnen. Seilschaftler schauen auf Die Anderen stets mit Verachtung herab. Und Norbert Marohn hat jetzt ein ganzes Buch dem Anderen gewidmet.

Eigentlich ist es sein Leben. Er weiß, wie das ist, anders zu sein. Das hat ihm – wenn man die Gedichte “Ende der Kindheit” autobiografisch interpretiert – sein Vater mit einer recht rüden Erziehung früh schon beigebracht. Gedichte aus drei Jahrzehnten enthält der Band. Das ist schon fast eine Lebenslese. Hier hat einer sein Leben und Erleben reflektiert. Oft sehr direkt. Nicht nur, was die Freuden und Leiden eines Mannes betrifft, der nun einmal Männer liebt. Sondern auch, was all die dazugehörenden Verunsicherungen betrifft. Denn Mehrheitsmännchen haben es ja gut – sie müssen an ihrer Veranlagung und an ihrer Rolle in einer auf zwei Geschlechter fixierten Welt nicht zweifeln. Sie können auch dann noch den Macho raushängen lassen, wenn der letzte mitfühlende Mensch den Raum verlassen hat. Dann erst recht.

Seit Wochen füllen ja wieder die “Skandal”-Geschichten rund um einen großen Versicherer und seine Art, die erfolgreichen Verkäufer mit Sex-Ausflügen zu belohnen, die Gazetten.

Was für eine verlogene Berichterstattung.Wer jahrein, jahraus die vor Testosteron strotzenden Karrieristen zu “Machern” und Helden der (Wirtschafts-)Welt stilisiert, hat eigentlich kein Recht, danach in Skandal-Geheul zu verfallen, wenn sich diese rücksichtslosen Erfolgsmenschen dann so belohnen, wie man es in ihrer Welt nun eben einmal macht: Man belohnt sich mit Sex. Käuflichem in diesem Fall.

Erstaunlich, dass sich keine einzige Ehefrau dieser Sex-Piloten zu Wort gemeldet und diesen Helden der Liebe öffentlich auf die Straße expediert hat. Denn zu dieser Sorte von siegestrunkenen Seilschaftlern gehören natürlich auch die duldsamen Frauen, die das alles ertragen und mitmachen.

Die Welt, aus der Marohns Gedichte stammen, ist eine andere Welt – eine Welt voller Selbstzweifel, unerfüllter Wünsche, steter Unsicherheiten. Der Systemwechsel 1989/1990 spielt dabei eigentlich keine große Rolle. Außer dass ein paar Phrasen sich geändert haben und in den Führungsetagen die Alphamännchen ausgewechselt wurden. Die Dünnhäutigkeiten bleiben. Und wer so anders liebt, erlebt Verunsicherungen natürlich noch stärker, wenn Liebe und Eros auseinanderfallen, ganz zu schweigen von der schweren Arbeit Partnerschaft.

Das sind eigentlich schon für die gewöhnlich orientierten Paare Aufgaben fürs Leben (die in der Regel einer immer nur die andere erledigen lässt). Aber wenn stets auch noch die scharfkantigen und zuweilen eisigen Begegnungen mit der Welt der “Normalen” dazukommt, wird das gerade für Leute, die eh schon mit sich hadern, zu einem permanenten Stress der Gefühle. Was auch den Gedichten abzulesen ist, die nicht dicht sind, sondern eher diffus. Sie mäandern, Bilder, Sätze, Emotionen irren mitten in den Zeilen ab, hüpfen und springen. “Klarheit der Gefühle”? – Fehlanzeige. “Ich Schwankungen” heißt eins der Gedichte, das oszilliert zwischen “Bin ich” (hinter dem man das Fragezeichen durchaus lesen darf) und “Ich bin” (hinter dem man es genauso lesen darf, obwohl es nicht da steht).Und dass dahinter mehr steckt als nur der Versuch, die eigene Rolle als andersliebender Mann in zwei Gesellschaften zu finden, die alle beide ihre Schwierigkeiten mit Minderheiten hatten und haben, wird dann im angehängten Essay “Geschichte vom Andern. Variationen” ausführlich diskutiert. Denn gleichgeschlechtlich Liebende sind ja nur eine Minderheit in der Gesellschaft. Eine von vielen, die zum Jagdobjekt der uniformen Männchen werden, wenn’s mal wieder kriselt in der Macho-Gesellschaft. Marohn zitiert dabei fleißig Freud und Tacitus – der freilich ein aus römischer Siegersicht gefärbtes Germanen-Bild niederschrieb, das wohl mit der Wirklichkeit im nicht-besiegten Germanien wenig zu tun hat. Aber es volkstümelt ja bis in die Textergüsse der heutigen Nationalisten hinein, denen das Seilschaftsdenken praktisch die erste Natur ist.

Und man kann nicht wirklich Tacitus zum Ratgeber nehmen, wenn man herausfinden will, wie tolerant frühere, vorschriftliche Gesellschaften waren und wie sie mit Anderen, mit Fremden und Außenseitern umgingen. Mit Homosexuellen, Einwanderern, Andersgläubigen. Wie sie sich Tabus schufen, Heiligtümer und Gesetze.

Aber vielleicht ist es sogar die ewige Frage nach dem Anderen, die nicht beantwortbar ist, weil sie falsch gestellt ist. Weil sie das angepasste Männchen aus der Seilschaft zur Norm erklärt und alles, was sich davon unterscheidet, für anders. Und damit nicht zugehörig.

Was dann wieder auf die Gedichte verweist, die leider nicht chronologisch geordnet sind, die sich aber in ihrer ganzen Zerrissenheit mit den ganz persönlichen Problemen beschäftigen, die sich auftun, wenn sich der Schreibende nicht als selbstverständlichen Teil des großen Ganzen verstehen kann oder darf. Wenn die Kluft zum “Normalen” und Selbstverständlichen bis ins Persönliche hineinreicht.

Man merkt, wie es sich sammelt, staut, widerspricht und immer wieder unterbricht, weil jeder Aspekt immer noch eine andere Seite, ein dickes Aber hat. “Lyrik ist ein Lebenszustand”, meint Marohn. Nach diesem Buch weiß man zumindest: es ist kein idyllischer.

“Einfall von Kindheit”, Norbert Marohn, Lychatz Verlag 2012, 19,95 Euro

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