Renate und Roger Rössing haben zwar zusammen an die 100 Bücher gemacht - als Fotografen und Autoren. Aber keines hat die Faszination ihrer Art zu fotografieren so auf den Punkt gebracht wie der 2006 erschienene Fotoband "Menschen in der Stadt". Damit eröffnete Mark Lehmstedt seine Serie "Bilder und Zeiten". Der Band ist längst vergriffen. Das hier ist eine Neuauflage mit vielen zusätzlichen Bildern.

Den ersten Band erlebte Roger Rössing noch. Konzipiert hatte er ihn noch zusammen mit Renate, die 2005 starb. Es war eine Art Rückschau, Gesamtschau und ein Neubeginn. Denn es haben sich zwar allerlei Bildikonen aus dem Leipzig des 20. Jahrhunderts eingebrannt ins Gedächtnis der Zeit. Viele davon von körniger Unschärfe und tristem Grau. Aber niemand hat die Leipziger in dieser Zeit so intensiv und mitfühlend mit der Kamera begleitet wie Renate und Roger Rössing, die sich während des Studiums an der heutigen HGB kennenlernten. Die frühesten Bilder in diesem Band stammen aus dem Jahr 1946 – sie zeigen das in Trümmern liegende Leipzig, die ersten Heimkehrer, die ersten Trümmerarbeiten.

Sie zeigen den Moment der Auferstehung. Für die Leipziger, die 1945 bis 1955 jung waren, war die von Becher getextete Nationalhymne der DDR erlebte Realität. Sie hatten miterlebt, wie ihre Stadt unter den Bombengeschwadern in Flammen aufging, wie eine der reichsten und schönsten Städte Deutschlands für immer in Trümmer fiel. Und sie packten mit an. Schoben Trümmerloren, brachten die Fabriken wieder in Schwung, gingen zu den Umzügen der neuen Macht. Man kann nur raten, wer auf den Bildern tief verstrickt gewesen war in das untergegangene Reich der Größenwahnsinnigen. Die hier stehen, sind die Generation 1. Der Moment der Wiedergeburt aus der Schuld war für diese jungen Menschen, die die Rössings mit der Kamera ablichteten, genau der Akt des Besitzergreifens einer “neuen Zeit”, die viele von ihnen heute so grimmig und verbittert macht. Denn die Aufbaugeneration – das sind die heute 70-Jährigen.

Wenn man den Band durchblättert, beginnt man zu ahnen, wie viel die Leipziger tatsächlich geschafft haben. Auch mit den wenigen Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen. Schon allein der Hauptbahnhof und die Messehäuser waren Kraftakte. Ganz haben sie es nie geschafft. Auch das ist zu sehen. Die Wunden des Krieges klafften auch 1989 noch im Stadtbild. Da und dort ausgefüllt mit den Bauten der Moderne, aber auch einem neuen Opernhaus, einem neuen Gewandhaus. In den 1960er/1970er Jahren wirkte Leipzig wieder stellenweise modern. Und selbst die Verwandlung der Leipziger verblüfft. Zeitweilig zeigen diese Fotos eine Leichtigkeit des Seins, als würde es diese Stadt tatsächlich schaffen, das Tor in ein neues Zeitalter zu öffnen.
Oft ist das Empfinden, ob eine Gesellschaft prosperiert oder stagniert, reine Psychologie. Aber haben die Rössings nach den optimistischen 1960er und 1970er Jahren einfach die Motive anders gewählt? Wann ist das gekippt? Irgendwann in den 1970er Jahren, sagen die Fotos. Fast hat man beim Blättern das Gefühl, jetzt verschwindet die Sonne hinter den Wolken, die Stadt wird kälter und schwerer, sackt auf den zerschundenen Boden , bekommt die bleierne Schwere, die am Ende zu diesem dumpfen Grummeln führte, das der Anfang vom Finale war.

Es kann auch an den Gesichtern liegen. Eine Verbissenheit breitet sich aus. So sehen Menschen drein, die nicht mehr auf Veränderungen warten, sondern angefangen haben, nur noch auszuhalten.

Viele ältere Leipziger werden ihre Erinnerungen in diesem Band wiederfinden. So deutlich und plastisch ins Bild gesetzt, wie es nur die Rössings konnten. Manche Gesichter wirken vertraut. Als hätte man sie eben noch in Lindenau oder Volkmarsdorf getroffen. Als wären sie nicht älter geworden. Nur etwas besser gekleidet sind sie nun, aber genauso vom Leben ausgespuckt. Nach 1990 kam die Ungleichzeitigkeit zum Wirken. Seitdem ist Leipzig eine Stadt, in der ganze Welten nebeneinander her leben. Das ist in diesem Band nicht mehr eingefangen. Das wäre Arbeit für heutige Fotografen.

Roger Rössing starb 2006. Er hat das Erscheinen von “Menschen in der Stadt” noch erlebt. Und wohl auch die beginnende Faszination der Buchkäufer, die nun aufs Neue entdecken durften, dass nicht die Häuser und Straßen und Plakate das Wichtige sind an einer Stadt, sondern ihre Bewohner. Schlecht frisiert oft, ein bisschen rundlich um die Taille, meist mit allerlei Beuteln unterwegs. Immer auf Jagd. Und richtig glücklich, wenn’s am Zeitungsstand den neuen “Eulenspiegel” und die “Wochenpost” gab. Glücksmomente in einer als karg erlebten Welt.

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Leipziger Impressionen
Roger und Renate Rössing, Lehmstedt Verlag 2013, 19,90 Euro

In diesem Band ist diesen Leipzigern noch einmal ein Denkmal gesetzt. Er endet in jenem Moment, in dem die Meisten tatsächlich genug hatten von alledem, in der der Traum entsorgt wurde und eben diese schlecht gekleideten Gestalten auf einmal zu Hunderttausenden auf dem Ring laufen werden. Selbst diese 40, 44 Jahre, die hier versammelt sind, zeigen, wie sehr sich eine Stadt und ihre Bewohner selbst dann verändern, wenn die Rückschau scheinbar nur Erstarrung zeigt. Was ganz sicher viel mit den lähmenden 1980er Jahren und der nicht beantworteten Frage noch dem “Wie weiter?” zu tun hat.

Städte und Menschen leben von der Veränderung. Und eine Stadt wie Leipzig erst recht. Man sieht das Auf und Ab der Zeiten, so wie es Rolf Richter in seinem Vorwort beschreibt. Eine Stadt zwischen Messe-Euphorie und Einkaufstristesse. Und was den Zeitgenossen vielleicht als zäher Strom der Zeit erlebbar war, wird hier auf 160 Seiten gebündelt – verdichtete Zeit. Und am Ende waren selbst die 40 DDR-Jahre eine Zeit der rasenden Veränderungen. Nicht rasend genug. Denn der Verfall nagte augenscheinlich schneller. Auch die ruinösen Vorstädte kommen ins Bild. Am Ende haben die Rössings diese Motive mitten ins Bild gerückt. Das Bewusstsein dafür, dass es so nicht weiter gehen kann, hatte die Gesellschaft erfasst. Da fehlte nur noch ein Tick …

Aber den findet man in anderen Fotobänden. In diesem hier ist 1989 Schluss. In Schwarz-Weiß. In einer klaren und doch sensiblen Sprache. Hier finden sich die Leipziger wieder in ihrer Zeit. Zwischen Ankunft und Abschied. Kaum ein Motiv steht für diese permanente Veränderung so wie der Leipziger Hauptbahnhof mit seinen Lichterkaskaden. So wie auf dem Umschlagcover. Diese Leipziger lassen sich Vieles gefallen. Aber was sie nicht aushalten, ist das Gefühl, dass sich nichts mehr bewegt. Wirklich stillsitzen können sie nicht. Und selbst in Beziehungen halten sie es nicht aus. Wenn alles in Ordnung scheint, sind es zuerst die schönen Frauen, die anfangen skeptisch dreinzuschauen – wie auf Seite 120. Irgendwas kann nicht stimmen, wenn alles in Ordnung ist. Irgendwas läuft falsch, wenn alles gut ist. Höchste Zeit, was zu ändern.

Leipzig ist keine gemütliche Stadt. Und gehört deswegen eigentlich auch nur verwaltungstechnisch zu Sachsen. Realistisch betrachtet, ist es eine immer offen stehende Tür zur Welt. Nach dem Durchblättern weiß man, warum es die Leipziger waren, die 1989 die friedliche Revolution ins Rollen brachen. Sie halten Stillstand nicht aus.

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