Vielleicht hätten sich die Leser vor 100 Jahren gewundert über das, was zum 200. Jahrestag der Völkerschlacht in Leipzig an Büchern erscheint. Keine Romane über Feldherren, Schlachten, freiwillige Krieger. Kein Hohelied auf "Befreiungskrieg" und "nationale Geburt". 2013 steht das Leiden der Zivilbevölkerung und der Soldaten im Mittelpunkt - bei Sabine Ebert, bei Susan Hastings und nun auch in diesem Jugendbuch von Klaus W. Hoffmann.

Auf die Idee, den beiden Bestsellern der Autorinnen noch ein Jugendbuch nachzuschicken, kam er bei einem Besuch im Landschaftsmuseum Bad Düben, wo ihm erst einmal bewusst wurde, dass die Schlacht von Leipzig auch sämtliche Dörfer und Städte im Vorfeld der Stadt bis weit hinter die Mulde betroffen hat. Die stadtnahen Dörfer waren heftig umkämpft und gingen teilweise komplett in Flammen auf. Aber auch an den Straßen und Heerwegen brauchten die gewaltigen Heere Unterkunft, Futter für die Tiere, Heizmaterial und Verpflegung für die Truppen. Und nach der Schlacht jeden verfügbaren Raum als Lazarett.

Da war es auch egal, ob es fremde oder die eigenen Truppen waren, Franzosen, Preußen, Kosaken, Sachsen – so eine Schlacht verheerte ganze Landstriche, verzehrte alle Vorräte, verschonte kein Haus. Hoffmann besuchte dann auch noch die Museen in Eilenburg und Delitzsch – aus Leipziger Sicht alles abgelegenes Terrain ohne Schlachthandlungen. Aber auch hier wechselten mehrfach die Besatzungen, wurden Nahrungsmittel eingetrieben, kam es auch zu Übergriffen von Soldaten.
Beginnen lässt Hoffmann seine Geschichte in Söllichau, wo sein Held Christian Burger, mit 17 freiwillig zu den sächsischen Truppen gemeldet, die Brutalität eines französischen Vorgesetzten nicht mehr ertragen kann und desertiert. In Laußig sucht er beim jungen Dorflehrer und dessen Schwester Friederike Unterschlupf, nachdem er sich seiner verräterischen Uniform entledigt hat. Aber ruhig bleibt es in Laußig nicht mehr lange. Am 6. Oktober kommen die Kosaken. Die große Schlacht zieht sich zusammen. Aber nicht in der Dübener Heide, wo Napoleon seine Gegner gern einzeln gestellt hätte, sondern vor den Toren Leipzigs. Entsprechend groß sind die Truppenverbände, die sich von allen Seiten auf Leipzig zuschieben. Da bleibt kein Dorf verschont und auch Laußig wird geplündert, so dass die drei Freunde zur Flucht gezwungen sind. Aber wohin? Wer sagt einem in so einer Situation, wo man vom Aufmarsch verschont bleibt?

Schon an der Fähre bei Gruna kommt es zu einem blutigen Zwischenfall. Der Pfarrer von Gruna nimmt die Obdachlosen auf. Und die Zeit der Rekonvaleszenz nutzt Christian, um sein Tagebuch zu beginnen. Die jungen Leser erfahren das Ganze also aus Christians Blickwinkel, können seine Emotionen nachlesen und erleben mit, wie die Betroffenen versuchen zu retten, was zu retten ist, mit den wechselnden Truppen umzugehen und am Ende um das Kärglichste kämpfen.

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Die meisten Orte und Ereignisse sind geschichtlich belegt, auch der Aufenthalt Napoleons in Eilenburg. Teile des Erzählten hat Hoffmann an historische Überlieferungen von Augenzeugen angelehnt, so dass die jungen Leser auch ein Gefühl dafür bekommen, unter welchen Bedingungen die Bauern, Fährleute, Dorflehrer, Dorfschulzen und nicht immer freiwilligen Soldaten mit den Bedingungen der Schlacht und der Besatzung umgingen. Natürlich ist es ein Roman und natürlich steckt auch eine Liebesgeschichte drin, sonst hieße ja das Buch eher “Der Deserteur” und nicht “Die Geigerin”.

Da kam dann wohl bei Klaus W. Hoffmann auch ein wenig die romantische Ader durch. Obwohl die Liebesgeschichte zwar zart und anrührend mitschwingt, im Zentrum aber steht eine höchst biblische Frage, mit der Christian Burger von Anfang an umgehen muss: Geben einem die Gewalttaten von Einzelnen das Recht zur Rache? Selbst dann, wenn diese ihren Dienstrang ausnutzen, um ihrer Gewalttätigkeit freien Lauf zu lassen?

Ein Phänomen, das man aus allen Kriegen kennt. Der Krieg selbst senkt sämtliche moralischen Hürden, er schafft den Raum für Taten, die eine friedliche Gesellschaft aus gutem Grund sanktioniert. Und damit ist es auch eine Ur-Frage der napoleonischen Kriege: Gibt schon die politische Möglichkeit, mit einem Krieg gesellschaftliche Veränderungen zu erzwingen, auch das Recht, so einen Krieg vom Zaum zu brechen? – Eine Frage, die 200 Jahre später noch ganz anders gestellt werden kann, denn die wenigsten Kriege haben am Ende auch die Ziele erreicht, die politisch artikuliert wurden.

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Die Geigerin
Klaus W. Hoffmann, Lychatz Verlag 2013, 15,95 Euro

Christian kann das moralische Dilemma nicht ganz lösen. Darauf weist ihn auch der Pfarrer von Gruna hin – zwar aus zutiefst religiösen Gründen. Aber die Sache mit “Die Rache ist mein” ist auch eine, die für jede andere Gesellschaft geklärt werden muss. Daran entscheidet sich, ob eine Gesellschaft es schafft, einen friedlichen Weg einzuschlagen oder ob die Rachekeule alsbald wieder herausgeholt wird, wenn ein paar mächtige Leute wieder glauben, dass “Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln” ist. Bekanntlich die Frage, mit der sich die preußischen Militärreformer seinerzeit befassten. Eine Frage, die auch 200 Jahre später deutsche Kriegsminister noch (oder wieder) in Verlegenheit bringt.

Es scheint mal wieder an der Zeit, darüber nachzudenken. Gründlicher als die Herren mit den üppigen Wehretats.

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