Viele Debatten über Wissenschaft und moderne Forschung in den deutschen Medien muten an, als hätte ein gut Teil der debattierenden Politiker sämtliche naturwissenschaftlichen Fächer in ihrer Schulzeit abgewählt. Und selbst bei den Ressort-Journalisten, die so tun, als würden sie objektiv analysieren, scheint spätestens im Denkfach Mathe immer der Spruch gegolten zu haben: Das macht schon der Taschenrechner.

Wie viel ist dran an der These, dass die Schuldenprobleme in Deutschland und der EU auch damit zu tun haben, dass die Verantwortlichen nicht wirklich (gut) rechnen können? – Natürlich vertritt Alfred Schreiber diese These in diesem Buch nicht. Es wäre ein anderes Buch geworden. Vielleicht sogar mit dem Titel: “Die verbitterte Vernunft”. Denn spätestens wenn es um Zahlen und Kosten geht, stellt sich heraus, ob einem nur heiße Luft verkauft wurde oder sich der Verantwortliche tatsächlich mit der Materie beschäftigt hat.

Schreiber ist seit 1986 Professor für Mathematik und ihre Didaktik an der Uni Flensburg. Er beschäftigt sich also auch damit, wie man jungen Leuten das Rechnen vermittelt, erlebt also auch, wie mit dem Schulfach Mathematik in den Schulen umgegangen wird. Nicht wirklich anders als mit anderen Fächern. Das ist deprimierend. Nicht nur für erwachsene Leute, die dann flapsig hinschmeißen: “In Mathe war ich immer schlecht.” Und dafür auch noch Bewunderung einheimsen, weil sie es trotzdem zu irgendwas gebracht haben.

Aber wer sich dann anschaut, was diese Karrieristen ohne mathematisches Rüstzeug verzapfen, dem kann schon schlecht werden.
Was macht Schreiber? – Eigentlich hat er nur mal alle seine Kolumnen gesammelt, die er von 2002 bis 2012 in den “Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung” veröffentlicht hat, launige Zettel, ganz im biblischen Sinn, zum Drübernachdenken und Sich-Merken. Alle um das Thema Mathematik kreisend. Und das schwierige Verhältnis der Menschen zu diesem Fach. Woher kommt das? Warum haben so viele Menschen Probleme, mathematische Aussagen zu verstehen? Selbst dann, wenn sie in Medien und Alltag überall präsent sind? – Keine seriöse Zeitung kommt ohne Grafiken, Tabellen und Diagramme aus, in denen sie Verhältnisse darzustellen versucht – Wahlergebnisse, Schuldenstände, Arbeitslosenzahlen. Oder wie wäre es mit Wasserständen und Durchflussmengen bei Hochwassern?

Damit fangen wir jetzt gar nicht erst an. Denn die simple Tatsache ist: Selbst Leser mit Abitur, Doktortitel und Hornbrillen verstehen da oft nur “Bahnhof”, können sich das weder vorstellen, geschweige denn ausrechnen. – Sind Mathematiker deshalb zu neuen Exoten geworden? Überflüssig geworden durch die modernen Computer, die ja in einigen SF-Wälzern und bei einigen Narren der Forschrittsgläubigkeit längst dabei sind, Intelligenz und Emotionen zu entwickeln? Also eigentlich schon bald den Menschen auch noch diese Schwerstarbeit abnehmen können: zu denken?

Das fiel auch schon den alten Griechen nicht leicht. Trotzdem hatten sie ein paar kluge Köpfe, die den Ziffern und Zahlen auf die Schliche kommen wollten. Was für Jahrhunderte der höchste Standard war. Bis im 9. Jahrhundert die Inder die Null erfanden und die etwas höhere Mathematik über die Araber und einen Italiener namens Fibonacci wieder nach Europa kam – mitsamt den ganzen Begriffen wie Algebra und Zero und dem X für die zu suchende unbekannte Größe.

Aber Schreiber fragt natürlich auch nach den Antriebskräften seiner Zunft. Warum tun die Leute das alles? Suchen nach Beweisen und Lösungen? Und geben sich mit “Basta”-Antworten sowieso nicht zufrieden? So lange eine Theorie nicht durch Beweise abgesichert ist, bleibt sie Theorie. Er geht in seinen vielen schönen Denkzetteln, in denen er auch zeigt, wie Mathematik selbst in der Literatur, der Philosophie und der Architektur sowieso auftaucht, auch auf die vielen Irrtümer ein, die über die Mathematik im Schwange sind. Und nicht nur über Mathematik. So etwa bei der Frage: Wann gilt ein Beweis? – Wieder schön zu beobachten in der neuerlichen Mediendarstellung zur Arbeit des Weltklimarates, wo sich hochstudierte Redakteure nicht entblöden, die Arbeit des IPCC als eine Verschwörung voreingenommener Wissenschaftler darzustellen, nicht die Bohne daran interessiert zu erfahren, wie die Prognosen zu Weltklima zustande kommen und wissenschaftliche Diskussionen aussehen.

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Schreiber ist da im Fall der Mathematiker deutlich: Es wird nicht abgestimmt wie in irgendeinem europäischen Parlament. Kritiker benennen die Schwachstellen von Theorie oder Beweis – und dann geht man gemeinsam daran, diese Schwachstellen abzuklären.

Wissenschaftliche Erkenntnis wächst genau durch diese Kritik, durch wissenschaftliche Zweifel. Und durch etwas, was manche Redakteure und Politiker nie begreifen: die permanente Unzufriedenheit mit dem Schon-Gewussten. Da ergeht es Klimaforschern, Physikern und Mathematikern in gleicher Weise: Es gibt keine Grenze der Erkenntnis. Jedes neue Forschungsfeld erweist sich wieder nur als ein Feld voller neuer Fragen und Ungewissheiten. Das berührt das Themenfeld, das Schreiber mit “Die enttäuschte Erkenntnis” beschreibt. Man kommt an kein Ende. Endgültige Gewissheiten? – Fehlanzeige.

Was in der Geschichte auch immer wieder allerlei Scharlatanen ein Spielfeld war – und ist. Und die Instrumente, die die Mathematik in den letzten 3.000 Jahren entwickelt hat, sind natürlich Denk-Instrumente. Nicht ohne Grund fordern Mathematiker nicht nur für das Unterrichtsfach Mathematik mehr Praxisbezug. Sie fordern auch die engere Verknüpfung mit den anderen naturwissenschaftlichen Fächern. Und sie fordern die Abkehr vom Häppchen-Unterricht, der Schüler geradezu dazu verleitet, nur das Abgefragte zu lernen und wo es geht zu spicken, zu tricksen, einfach zu kopieren. Viel zu wenig steht die Schulung der Denk-Fähigkeiten im Mittelpunkt – die Fähigkeit, logisch zu denken oder gar Problemstellungen selbstständig zu analysieren und dafür Lösungen zu finden.

Eigentlich hätte der Verlag dieses Buch ganz opulent in dunkelblauen Samt einbinden können, in einen festen Einband sowieso. Denn es ist ein Buch, das zum Denken anregt und auffordert, das, was man früher ein “Vademecum” nannte. Gar nicht mal nur ein Wegbegleiter für Leute, die sich schon als Mathematiker empfinden, sondern für jene, die die moderne Verachtung für mathematisches Denken selbst so langsam sehr bedrohlich finden.

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Die enttäuschte Erkenntnis
Alfred Schreiber, Edition am Gutenbergplatz Leipzig 2013, 19,50 Euro

Schreiber zeigt natürlich, dass er sehr belesen ist – aber wer seinen Literaturempfehlungen folgen will, findet ausführliche Anmerkungen im Anhang. Und er findet auch Trost, denn das Faustsche Dilemma (“Habe nun ach …”) ist natürlich nur für Faust eins, der über den Wissenstand seiner Zeit einfach nicht hinaus kam. Gerade die moderne Mathematik hat auch dazu beigetragen, das strenge scholastische Weltbild aufzubrechen und die Grenzen für unsere Welterfahrung zu sprengen. Und für immer neue Ent-Täuschungen zu sorgen, wie es Schreiber nennt: Neue wissenschaftliche oder mathematische Erkenntnisse sorgen dafür, dass schöne alte Täuschungen ihrer Grundlagen beraubt werden.

Das kann auch Forscher und Knobler deprimieren. Wer nimmt denn schon gern Abschied von den schönen Märchen der Kindheit? – Mathematiker zumindest sind Typen, die gerade dann erst recht weiter machen. Ent-Täuschung als Arbeitsmaxime und Lebenshaltung. Verständlich, dass Mathematiker in heutigen Smalltalk-Runden am Buffett auffallen. Sie nehmen die Dinge nicht einfach als gegeben. Sie ziehen eher die Stirn in Falten und kramen ihren Bleistift aus der Tasche. Und rechnen erst mal nach, was ihnen da für bare Münze aufgeschwatzt wird.

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