Es ist ein ganz seltenes Buch, das der Lychatz-Verlag hier vorlegt. Es ist das Buch einer Begegnung und einer Gemeinsamkeit. Was etwas anderes ist als Einheit. Die kann man auch durch einen Verwaltungsakt herstellen. Gemeinsamkeiten aber muss man suchen und wahrnehmen wollen. Deshalb ist auch einer wie Heinrich Peuckmann eine kleine Ausnahme.

Er hat den deutschen Osten nicht wie eine Kolonie bereist, wie das andere gern taten und bis heute tun und sich dann jedes Mal geschmeichelt fühlen, wenn die ostdeutschen Aboriginis ihnen Beifall zollen für ihren Wagemut und ihre Spendierhosen. Peuckmann hat sich den Osten nicht aus dem Elfenbeinturm heraus angeschaut, sondern hat nach Verwandten geschaut, Geistesverwandten. Menschen, deren Welt-Haltung (was etwas anderes ist als ein Standpunkt) ihm nahe waren. Was eigentlich selbstverständlich sein sollte. Aber nicht immer ist.

Dieses Buch ist im Grunde eine Hommage an zwei Männer, die Peuckmann als Freunde und Geistesverwandte für sich entdeckt hat. Der eine ist der 2012 verstorbene Lyriker Heinz Kahlau, dessen sehr konkrete, sachliche und zugleich sinnliche Gedichte auch Peuckmanns Art zu dichten nahe ist. Der andere ist der Hallenser Maler Willi Sitte, der in der DDR-Kunst mit seinen eindrucksvollen Akt-Malereien für Aufsehen sorgte. Dass er aber auch die kleinen Formate beherrscht, zeigen die diesem Gedichtband beigegebenen Grafiken, an deren Auswahl der im Juni 2013 verstorbene Künstler noch beteiligt war.
Es sind nachdenkliche Grafiken, Grafiken, wie man sie eher von Leipziger Grüblern wie Mattheuer oder Tübke erwartet hätte. Manche greifen die politische Entwicklung der Welt mit kritischem Blick auf – so schon die 1984 geschaffene Grafik, die Goyas “Schlaf der Vernunft” für die Gegenwart übersetzt, aber auch die 2001 entstandene Grafik “Herr Mittelmaß als Feigling”. Aber noch auffälliger sind die intensiven Beschäftigungen des Künstlers mit sich und dem Älterwerden – dargestellt etwa in dem Grafik-Zyklus “Dialog” oder der Grafik von 1999 “Drei Frauen verweigern sich dem Paris”. Das kann man ganz individuell interpretieren – und Paris steht dann mit seinem Apfel recht ratlos in der Gegend herum. Das kann man auch auf eine Gesellschaft interpretieren, die sich der Liebe oder nur dem Liebesakt verweigert. Wo alles käuflich wird, bleibt die Verweigerung als letzte persönliche Geste.

Dass von Peuckmann das Gedicht “Bloß nicht” daneben steht, ist kein Zufall. Darin geht es um das nie endende Geschwätz der Boulevard-Medien über das Liebesleben all der berühmt geschriebenen Prominenten und Sternchen, erhöht in all seiner Banalität. Das, was vor Zeiten mal Dorfklatsch alter Tratschweiber war, geriert sich heute als gesellschaftliche Berichterstattung. Und Peuckmann – selbst nun 64 Jahre alt – reflektiert das mit immer neuer Verblüffung. Da kennen ihn Leute aus irgendeiner Zeitung, quatschen ihn an, interessieren sich aber nicht die Spur für seine Gedichte. Da begegnet ihm eine Frau, die ihm gefällt. Doch statt mit ihm zu sprechen, zündet sie sich eine Zigarette an und tippt hektisch Nachrichten auf ihrem Handy. Kommunikation findet nicht mehr statt.

Aber wie Sitte macht sich Peuckmann zunehmend Gedanken über das Vergängliche. Es gibt einige Gedichte, in denen er diese wachen und verwirrenden Momente einfängt, in denen das Blühen und Vergehen ringsum den Augenblick vergoldet und wichtig macht. Bemerkenswert. Ganz wie bei Kahlau. Es gibt aber auch einen ganzen Gedichtzyklus, der sich mit Peuckmanns Herkunft aus dem Ruhrpott beschäftigt. Bis in die Vorgeschichte hinein, von der “Roten Ruhrarmee 1920” bis zur Geschichte seiner eigenen Vorfahren im NS-Reich, die vom Verweigern bis zum Mitmachen reichte. Ein Thema, das dann wieder mit einer Sitte-Grafik gespiegelt wird: “Anschauungssache”. Doch der nackte Mann” auf Sittes Grafik von 1993 schaut nicht an, sondern hält sich die Augen zu.

Im Dialog spinnen der Dichter und der Künstler ein sehr feines Garn. Befragen sich selbst und ihre Lebensgeschichte. Und machen die Brüche im Leben und in der Zeit sichtbar. Wo hört das Verweigern auf und fängt das Mitmachen an? Und warum muss eine spießige Familie nicht langweilig sein? Welche Fäden ziehen sich da durch die Generationen. Wie erkennt sich einer selbst wieder in den Charakteren seiner Vorfahren? Selbst in denen, die ihm eigentlich suspekt sind?

Peuckmann schafft so etwas, was nicht jedem Dichter gelingt: Er geht mit Neugier an die Erinnerung, versucht nicht, den Richter zu spielen. Auch weil er weiß, dass einer am Ende immer auch mit sich selbst auskommen muss. Am Ende wird auch die Jugend mit all ihren Erinnerungen wieder präsent, die alten Fragen erweisen sich als die Grundfragen des eigenen Lebens. “Was ist mit mir los”, fragt sich der Dichter. “Werde ich sentimental, gar kitschig …”

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Erinnern. Vergessen
Heinrich Peuckmann, Lychatz Verlag 2013, 22,95 Euro

Ein Staunen liegt über diesen Erinnerungs-Gedichten – darüber, wie wenig sich verändert hat und wie präsent die Jugend noch ist. Und dass das eigene Leben so erstaunlich aus den Verunsicherungen der Jugend resultiert, als einer glaubte, schon alles zu wissen. Doch das Verständnis von all dem, “was damals geschah mit all seinen Folgen”, das kommt erst, wenn einer im Alter so zurückschaut und jeden Stein noch einmal umdreht: Ja, so war das. Und so wurde das. Einen Sinn bekommt das alles erst am Ende, wenn einer schon “auf dem Rückweg” ist.

Eigentlich wäre der Titel für die Gedichtauswahl andersherum zwingender gewesen: “Vergessen. Erinnern”. Denn tatsächlich plädiert Peuckmann ja nicht fürs Vergessen. Im Gegenteil: Nur wenn man sich erinnert, macht Geschehenes einen Sinn.

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