Vielleicht hätte sich Harald Saul das Vorwort einfach sparen können. Oder seine knappen Sätze zur Geschichte der Sudetendeutschen, die bis 1918 gar nicht so hießen. Dazu ist die Geschichte der deutschsprachigen Bevölkerung in Böhmen, Mähren und Sudetenschlesien zu komplex. Und es tut dem Anliegen seines Buches auch nicht gut, das wieder eine reichhaltige Spurensuche ist in den Erinnerungen und den Kochbüchern von Familien, die einst in diesen Regionen lebten.

Und die 1945 vertrieben wurden. Aber bis es dazu kam, ist mehr geschehen als das, was Harald Saul so knapp in ein paar Sätze fasst. Immerhin geht es hier um eine Region, in der sich Menschen aus unterschiedlichen Sprachkreisen und Kulturen jahrhundertelang arrangierten und kulturell befruchteten. Erst Hitlers “Heimholung” und sein besessener Krieg haben die gewaltigen ethnischen Bereinigungen ausgelöst, unter denen dutzende Völker Europas zu leiden hatten. Der betreffende Artikel auf Wikipedia gibt dazu recht ausführliche Informationen.

Was die Spurensuche von Harald Saul so wichtig macht, ist natürlich, dass sie zeigt, was da alles verloren ging. Es kommt eben nicht nur eine “unvergessene Zeit” zum Vorschein, diese ganze klebrige Heimattümelei, die so leicht von den Henleins und Hitlers dieser Welt zu missbrauchen ist. Es wird auch ein Stück jenes alten k.u.k-Österreich sichtbar, in dem das Miteinander der Kulturen und Nationen zwar nicht immer konfliktfrei war, aber immer bereichernd. Die Städte in den deutschen Sprachinseln waren keine jungen Gründungen, sondern hatten selbst eine jahrhundertealte Geschichte. Immer wieder hatte es über die Jahrhunderte auch Zuwanderung aus anderen deutschsprachigen Regionen gegeben, weil sich in Böhmen, Mähren, im Erz- und im Riesengebirge neue wirtschaftliche Chancen auftaten. Befördert auch durch die feste Zugehörigkeit zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und später zum Vielvölkerstaat Österreich.

Es waren die Nationalsozialisten, die dieses Miteinander ernsthaft als Hebel für ihre Großmachtpolitik nutzten und die millionenfachen Katastrophen der Betroffenen auslösten. Die Vertreibungen von 1945 mit all ihren Ressentiments und Rücksichtslosigkeiten sind anders nicht zu verstehen. Die Vertriebenen aus den deutschen Sprachinseln in der CSSR konnten oft nicht mehr retten als das Nötigste auf dem Leibe. Und dass sie sich dann oft in sudetendeutschen Landsmannschaften zusammentaten, machte eine Aufarbeitung der Geschichte nicht einfacher.

Auch in diesem Buch stammen die meisten der Rezeptegeber und Geschichtenerzähler eben nicht aus den Sudeten, sondern aus Böhmen, Mähren, Iglau, Zwittau, dem Riesengebirge, Schlesien. Man lernt ihre Dörfer und Städte kennen, die im Buch auch mit alten Ansichtskarten bebildert sind. Gerettete Fotos aus den Familienarchiven erzählen von ihren Eltern und Großeltern, den landwirtschaftlichen Höfen und Handwerksbetrieben, alten Bäckereien, Cafés und Gasthöfen. Es wird aber auch sichtbar, wie karg das Leben oft war. Genauso karg meist wie das Leben der tschechischen Nachbarn. Oder auch der jüdischen. Auch dazu gibt es eine beeindruckende Geschichte, wie der nationalsozialistische Rassenwahn ein selbstverständliches Miteinander auf einmal zerriss.

Man lernt auch die Geschichten der Flucht und der Vertreibung kennen, ahnt, wieviel Leid die Vertriebenen auszuhalten hatten. Denn eines hatten Hitler & Consorten geschafft: den Hass zu schüren auf die Deutschen, die erst ein ganzes Land zerstörten und sich dann benahmen wie die Herren, nicht einmal ahnend, was sie da gerade alles mit Stiefeln zertraten.

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Noch mehr Familienrezepte
aus dem Sudetenland

Harald Saul, Buchverlag für die Frau 2013, 14,90 Euro

Harald Saul hat durch sein eifriges Sammeln nicht nur Dutzende Familienschicksale aufgespürt, die er in diesem Buch erzählen kann. Zu jeder Familiengeschichte gibt es auch wieder Rezepte aus den Familienkochbüchern. Und da wird eine vielfältige Küche sichtbar, die mit “Sudetenland” nun wirklich nichts zu tun hat. Eher mit all den frugalen Köstlichkeiten der böhmischen, mährischen und schlesischen Küche. Das beginnt im Buch mit Karlsbader Apfelstrudel und endet mit Haferflocken-Gemüseauflauf mit Kräutersoße. Oder aus dem Rezeptverzeichnis zitiert: Mährisch Schönberger Apfelsuppe, Bratschwammerl, Karlsbader Buchtelkuchen, Gablonzer Spitzbuben, Egerländer Gänseklein, Reichenberger Kartoffelgulasch oder Tetschener Osterbrot.

Auch das im Grunde eine sehr naturnahe und gesunde Küche, wie Harald Saul feststellt. Einige Rezepte reichen weit ins 19. Jahrhundert zurück. Einige der Geschichten, die erzählt werden, ebenfalls. Eine Zeitreise in eine tatsächlich verlorene Zeit.

http://de.wikipedia.org/wiki/Sudetenland#Geschichte_bis_1918

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