Thomas Persdorf ist geborener Leipziger, seine Geburt fiel mitten in den letzten großen Krieg. Sein Pflegevater war Bäckermeister. "Kleinkapitalistische Verhältnisse" nennt es Persdorf scherzhaft. Mit 18 Jahren flüchtete er in den Westen, wurde Tierarzt, lebt in Mainz und debütierte 2007 auch noch als Autor. Im Engelsdorfer Verlag erschien schon sein kenntnisreicher Schiller-Roman "Caroline und der 53. Gast". Nun also geht es um Krieg.

Den ersten Weltkrieg, den die Zeitgenossen noch den Großen nannten, weil sich viele nicht vorstellen konnten, dass der Wahnwitz noch schlimmer ausarten könnte, auch nicht ahnen konnten, dass der Zweite Weltkrieg noch mitten im Ersten geboren werden könnte. Das kann man auf vielerlei Art erzählen – aus der Schützengrabenperspektive, aus der Perspektive der involvierten Generäle oder Diplomaten, der darbenden Familien oder der alten Adelsgeschlechter, die alles wollten, nur nicht eine Abschaffung der alten feudalen Zustände … Aber genau dazu kam es ja bekanntlich.

Aber all diese Perspektiven wählt Persdorf nicht. Man merkt schnell, dass er in der Welt des großen bürgerlichen Romans zu Hause ist und diese Erzähltradition liebt. Deswegen ist sein Buch im Grunde auch eine doppelte Zeit-Reise – gerade für all jene, die nicht mit Fontane, Heinrich und Thomas Mann und Fallada aufgewachsen sind. Es ist ihre Welt. Und es ist in weiten Teilen ihre Art des Erzählens. Sie haben den kleinen Bürger zum Helden gemacht, haben seine Welt mit Farben und Atmosphäre bereichert. Und sie haben gezeigt, dass auch das Unspektakuläre mit Liebe und Dichte erzählt werden kann.Der etwas schief gewachsene Studienabbrecher Quintus Schneefahl könnte direkt aus einem dieser großen, 100 Jahre alten Romane stammen. Am Krieg darf er nicht teilnehmen, selbst der Musterungsarzt lacht ihn aus. Zum Erschießen will man nur ranke, schlanke, gerade gewachsene junge Männer haben. Totschießen lassen darf er sich also nicht, Arzt werden will er nicht, weil er keine Leichen sehen kann – da wird er eben Hauslehrer und verhilft den Töchtern des Barons von Wachen zu ein bisschen Nachhilfe. Nebenbei muss er auf dem Rittergut mit anpacken und erlebt endlich nach 21 Jahren der Verschüchterung seine erste Liebe, seine zweite und dritte gleich hinterher, was dann im Lauf der Geschichte zu einigen Verwicklungen führt.

So nebenbei entpuppt er sich als exzellenter Geschichtskenner, was ihm einen Job als Pressereferent eines Generals Hoffmann verschafft, was ihn unverhofft zum Teilnehmer der deutsch-russischen Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk macht. Nicht der einzige Ausflug in die reale Geschichte. Die streut Persdorf immer wieder mit kleinen Szenen und Zitaten aus Originaldokumenten der Zeit ein. Immerhin geht es beiläufig auch um die Frage, was die Zeitgenossen tatsächlich mitbekommen von dem, was auf der großen politischen Bühne passiert.

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Nicht nur, weil es höchst komplex ist – wer kennt schon all die Spieler im damaligen Balkankonflikt, der mit dem Attentat von Sarajevo zum Auslöser des großen Gemetzels wurde? Wer kennt die Bündnisse dieser Zeit und die Rolle des alten, kaiserlichen Russlands mit dem seltsamen Burschen namens Rasputin, der damals am Zarenhof herumgeisterte? Wer kennt die Triebkräfte der deutschen Militärpolitik unter Wilhelm II., der die alte Bismarcksche Politik des Gleichgewichts für überholt hielt und ein gewaltiges Rüstungsprogramm initiierte? Oder die Probleme das morschen k.u.k.- Kaisertums? Der alte, einsame Kaiser Franz Josef darf in einer der ersten Szenen im Buch ein Wannenbad nehmen. Aber die Rolle der russischen Bolschewiki gehören genauso zu diesem komplexen Themenfeld wie das Schisma der deutschen Sozialdemokratie. Auch das kommt in Persdorfs Roman vor – zum Schluss hin, als die Truppen beginnen, den alten Feldmarschällen und dem Kaiser den Gehorsam zu verweigern und die ersten Verbände nach Berlin fahren, um dort zu revoltieren.

Da ist Quintus Schneefahl mal wieder in Berlin und versucht, aus Aktenmaterial des Generals Hoffmann die vermeintlichen Verursacher des Großen Krieges zu rekonstruieren – er kommt auf die Serben als Auslöser und ist felsenfest der Überzeugung, damit den Kern der Wahrheit zu treffen. Womit er – nach seinen Berichten von den Verhandlungen in Brest-Litowsk – wieder in jenem seltsamen Fahrwasser ist, in dem sich Propaganda und Wirklichkeit vermischen. Und so recht ist auch da noch nicht klar: Welchen Weg wird der Bursche gehen? Eher zu den Konservativen bei der Vossischen Zeitung oder gar zu den strammen Militaristen (denn seine ersten Beiträge hat er für die Kriegszeitung geschrieben) oder doch eher zu den Sozialdemokraten um Ebert, Scheidemann und Noske? Kreise, in die er in diesem aufgewühlten Berlin des Jahres 1918 gerät, als von den alten Kriegshelden keiner bereit ist, die Friedensverhandlungen mit den Alliierten aufzunehmen.Das klingt jetzt, als wäre Schneefahl tatsächlich im Zentrum der Ereignisse. Aber mittendrin ist er nur fast am Schluss, als er sich wagemutig in die Rückeroberung des von aufständischen Soldaten besetzten “Vorwärts”-Zeitungshauses stürzt, wo er verwundet wird.

Eigentlich passiert ihm das alles eher zufällig. Es sind andere, die ihn mehr oder weniger anstoßen, überhaupt aus seinem Schneckenhaus zu kommen oder gar Zeilenhonorar für seine Artikel auszuhandeln – allen voran sein taffer Onkel Willi, dessen Berliner Charme und Schnauze genauso erfrischend sind wie die junge Dame Lili, die zu einer der drei aufregenden Begegnungen für den zurückhaltenden Quintus wird. Und zum Problem, weil ihm auf Gut Wachen noch eine ganz andere Liebe begegnet ist, die ihn in die Pflicht nimmt. Am Ende steht der junge Mann vor dem moralischen Dilemma, das Autoren des späten 19. Jahrhunderts so gern gestalteten, weil es immer wieder für Dramatik gut ist: Welche von beiden soll er denn nun nehmen? Und wie lang hält er das Versteckspiel durch? Und welches wäre jetzt für den Leser die moralisch richtige Entscheidung?

Es ist also auch ein Buch aus einer guten alten Zeit, in der die moralischen Zwickmühlen noch etwas einfacher waren als die heutigen und die Welt scheinbar voller väterlicher Helfer war, als Autoritäten noch was galten. Oder zumindest so aussahen und von den Quintussen angehimmelt wurden, auch wenn sie einen ganzen Krieg vergeigten und für den Tod von Millionen Menschen verantwortlich waren. Mit dem jungen Baron auf Wachen setzt Persdorf zumindest einen bissigen Widerpart ins Buch, denn ihm haben sie nicht nur einen Sohn schon in den ersten Kriegstagen erschossen – der liegt an einer Mauer in einem Dorf an der Marne verscharrt, – sein zweiter Sohn wird schwer verwundet und kommt reichlich ramponiert aus dem Krieg zurück.

Es ist kein Roman, der den Krieg als großes Menetekel beschreibt, sondern mit Quintus Schneefahl einen Burschen in den Mittelpunkt setzt, der die Veränderungen mit fast naiver Verwunderung erfährt.

Irgendwann schließt man sich dann irgendwas an. Mancher radikalisiert sich und nimmt dann die revolutionären Phrasen als Binsenweisheit. Andere gehen genauso gutgläubig einen Weg in die bürgerliche Anpassung, vielleicht – was bei diesem Quintus denkbar ist – auch als frommer Parteisoldat der (Mehrheits-)SPD. Aber das bleibt offen am Ende des Buches. Nicht einmal die Entscheidung über die richtige Liebe trifft er dann selbst. Wäre nicht sein Onkel Willi – es könnte mit den Verwicklungen immer so weiter gehen. Womit sich, auf eine fast gemütliche Art, die große politische Naivität mit der kleinen privaten mischt. Wie das im Leben der Menschen wohl meistens so ist. Und am Ende wundern sich alle, wie es dann doch (oder gerade) zum bekannten großen Schlamassel kommen konnte.

 

Thomas Persdorf “Entlang des Großen Krieges”, Engelsdorfer Verlag 2013, 14,00 Euro

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