Im Luchterhand Verlag ist man happy: Diesmal bekam der 1978 in Visegrad in Bosnien-Herzegowina geborene Sa?a Stani?ic dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik. Wieder einmal bekam die Leipziger Jury gerade noch die Kurve und wählte aus den nominierten Belleristik-Titeln denjenigen mit dem kleinen bisschen mehr, dass aus Textmasse eine phantasievolle Geschichte macht.

Gemeinsam mit Helmut Lethen und Robin Detje bekam Sa?a Stani?ic am Donnerstag, 13. März, den 10. Preis der Leipziger Buchmesse überreicht.

Sa?a Stani?ic, der bei Luchterhand schon mit “Wie der Soldat das Grammofon repariert” debütierte, bekam den Buchpreis für seinen Roman “Vor dem Fest”.

Sa?a Stani?ic hat darin ein Dorf erfunden, das es ganz gewiss gibt. Vielleicht genau so in der Uckerfmark, vielleicht unter dem Namen Fürstenfelde. Nur vielleicht nicht so menschenfreundlich, so unverdrossen. Er macht die Räume eng und die Zeit, erzählt von einer einzigen Nacht, der Nacht vor dem Annenfest, in der sich unwahrscheinlich viel ereignet und manches entscheidet. Zugleich jedoch stößt er die Tür zur Vergangenheit auf. “Vor dem Fest” unternimmt eine Probebohrung in die Tiefe deutscher Geschichte als Mythologie; ein Unternehmen allerdings, das den gegenwärtigen Kult weihevollen Gedenkens subtil verspottet: Die alten Schriften, Chronikberichte, Legenden und haarsträubenden Anekdoten à la Kleist, die im “Haus der Heimat” von einer gemütskranken Kustodin verwahrt werden, sind von höchst zweifelhafter Herkunft. Was das Vergnügen daran nicht mindert.

Stani?ic hat ein Dorf aus Sprache erfunden, ein Kaleidoskop, einen Kosmos aus vielen Stimmen, Klangfarben, Jargons, die Welt in nuce, magisch zusammengehalten von einem kollektiven Erzähler, der dazugehört, einem, der verschmitzt ist und gewitzt und klug und ein bisschen weise. Als gälte es, das Zerrbild des Antiheimatromans geradezurichten, dessen Typologie nur das verpatzte Fest kennt. Diese Dörfler sind keine Schurken, Sünder sind sie allemal. Weil auch die Tiere zu dieser fabelhaften Welt der Nussschale gehören, kann eine Füchsin oder Fähe vor einer Bäckerei stehen und denken: “Darin machen Menschen das, was Menschen am liebsten machen: aus einer Sache eine andere.” Aus einer Sache eine andere machen, das klingt nach einer Mischung aus Handwerk und Alchemie – und nichts anderes macht Sa?a Stani?ic dank stupendem Sprach- und Erzählwitz mit und aus seinem Stoff: man nennt es Literatur, und es lässt sich nicht einsperren in ein Ghetto ewigen Migrantentums. Omne solum forti patria est. Dem Starken ist jeder Boden Heimat. Auch der Sand der Uckermark.

Sa?a Stani?ic, geboren 1978 im Osten Bosniens, kam als Jugendlicher nach Deutschland. Er studierte in Heidelberg und am deutschen Literaturinstitut Leipzig. Der Autor, Blogger und Kolumnist erhielt zahlreiche Preise und Stipendien, unter anderem den Kelag-Publikumspreis des Bachmann-Wettbewerbs. Sein Debütroman “Wie der Soldat das Grammofon repariert” stand 2006 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.

In der Kategorie Sachbuch/Essayistik beklam Helmut Lethen den Preis für den Band “Der Schatten des Fotografen”, der bei Rowohlt Berlin erschien.

“Wir alle sind von Bildern umgeben und umstellt. Weil das so ist, bleibt uns im Alltag kaum etwas anderes übrig, als ihnen einfach zu glauben. Oder, die andere Möglichkeit, wir misstrauen den Bildern fundamental.”, begründet die Jury ihre Entscheidung. “Nicht, dass man sich mit diesem Buch durch Youtube-Videos klicken würde. Seine Welt ist vielmehr das Zeitalter der Fotografie. Denn Bilder – so sagt es der Literaturwissenschaftler Lethen mit dem Bildwissenschaftler Hans Belting – Bilder sind Nomaden, die ihre Zelte in verschiedenen Medien aufschlagen. Was die so unterschiedlichen Bilder in diesem Buch zusammenhält, ist nicht nur die ebenso sinnliche wie analytische Weise, in der Lethen seine Bilder betrachtet. Es ist auch die bohrende Frage nach ihrer Wirklichkeit. Eine Frage, die umso bohrender klingt, insofern sie ein Autor aus einer Generation stellt, die einst lernte und lehrte, dass Zeichen auf nichts anderes verweisen als auf andere Zeichen. In diesem Buch gibt es Bilder, die emphatisch zeigen, dass hinter ihnen genau nichts zu finden sei; Bilder, die als schwindelerregende Ironie-Maschinen fungieren. Doch was die insistierende Frage nach dem Dahinter bei anderen Bildern ergibt, ist nichts anderes als existenziell. Die Frau, die auf dem Cover des Buches abgebildet ist, watet mit nackten Füßen durch einen Fluss, Richtung trockenes Ufer. Ein idyllischer Anblick (eine Schäfer-Szene?). Erst der karge Hinweis auf der Rückseite des Fotos – ?Minenprobe … 1942? – macht die Frau sichtbar als das, was sie war: vorgeschickt von Soldaten an der Ostfront, als lebendiges Minensuchgerät.”

“Sollte ich Extremsituationen leibhaftig erfahren haben, sind sie mir offenbar nicht so in die Knochen gefahren wie angsteinjagende … Bilder oder Filme”, schreibt Helmut Lethen.

Bilder können ihm wie Wackersteine in der Brust liegen – oder auch erotisch anmutende Berührungen mit der Wirklichkeit ermöglichen. Dieses berührbare Autor-Ich nimmt die Leserin, den Leser mit durch dieses Buch. Wir hören, wie der Schüler in den Fünfzigerjahren im Kino von den Nazi-Verbrechen erfuhr. Wir sitzen dabei, wenn er zur Zeit der Niederschrift dieses Buches in einer Wiener Netzhaut-Ambulanz auf seine Behandlung wartet. Und vor allem sehen wir, wie er denkend mit den Bildern ringt. Wenn man dieses Buch als Verhaltenslehre des Sehens bezeichnet – als nützliche, sinnliche, analytische Verhaltenslehre des Sehens – dann nur, wenn man einen Aspekt noch ergänzt. Nichts Autoritäres gibt es hier, im Gegenteil. “Der Schatten des Fotografen”, das ist eine Lehre zum Mitdenken, anregend noch lange nach der Lektüre.

Helmut Lethen, geboren 1939, leitet seit 2007 das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien. Sein Buch “Verhaltenslehre der Kälte” (1994) über die Intellektuellen in der Weimarer Republik gilt als Standardwerk. 2006 erschien seine Gottfried-Benn-Biographie “Der Sound der Väter”.In der Kategorie Übersetzung wurde Robin Detje geehrt, der William T. Vollmanns “Europe Central” aus dem amerikanischen Englisch übersetzt hat. Erschienen ist das Buch ebenfalls in Berlin beim Suhrkamp Verlag.

“Die Arbeit des Übersetzers ist der eines Schauspielers nicht ganz unähnlich. Auch der Übersetzer deutet einen Text nicht nur an, sondern er inszeniert ihn im Gewand der neuen Sprache. Für diesen schöpferischen Akt schlüpft er in fremde sprachliche Rollen”, begründet die Jury ihre Auswahl. “Dass Robin Detje nun nicht nur Autor und Übersetzer ist, sondern auch Theaterschauspieler, mag ihm bei seiner Übertragung von William T. Vollmanns Roman ?Europa Central’ durchaus zugute gekommen sein. Denn es sind unfassbar viele Positionen, Charaktere und Perspektiven, die er in diesem grandiosen Stück Literatur auszufüllen hatte. Der Roman ?Europe Central’ ist ein Stimmwunder über Krieg und Diktatur im zwanzigsten Jahrhundert. Auf mehr als tausend Seiten versammelt es die Einzelschicksale von mindestens vierzig Figuren aus deutscher und sowjetischer Perspektive. Wir hören von historischen Künstlerfiguren wie Käthe Kollwitz und Anna Achmatowa ebenso wie von Generälen, die wie Wlassow und Paulus als Kriegsgefangene jeweils die Seiten wechselten.

William T. Vollmann führt uns durch die versehrte Kriegslandschaft, die dieses Mitteleuropa einmal war, er geht mit uns ins belagerte Leningrad ebenso wie nach Stalingrad, Dresden, Moskau und Auschwitz. Das alles wird berichtet von einer Erzählerstimme, die immer wieder die Identität wechselt. Acht Jahre hat es gedauert, bis “Europe Central” nach dem Erscheinen des amerikanischen Originals im Jahre 2005 nun endlich auch auf Deutsch vorliegt. Und es ist das große Verdienst dieser Ausgabe, dass Robin Detje anderthalb Jahre lang daran arbeiten konnte, so dass er auch den wichtigen und überaus spannenden Quellenapparat mit mehr als 750 Anmerkungen für die deutsche Ausgabe penibel nachrecherchieren konnte.

Robin Detje schreibt seine Übersetzung stimmig am amerikanischen Original entlang. Immer wieder findet er überzeugende Entsprechungen für Töne, Bilder, Motivreihen. Mit diesem Sprachgefühl, Akribie und auf Augenhöhe mit dem Autor bringt er uns diese Hymne auf die Kunst des Erzählens, die dabei selbst die Grenzen klassischen Erzählens immer wieder durchbricht, auch musikalisch nah. Nicht ohne Grund steht Dimitri Schostakowitsch im Zentrum des Romans, von dessen Kompositionen sich der Autor auch sprachlich inspirieren ließ. William T. Vollmann hat mit “Europe Central” eine bedeutende literarische Studie über das Spannungsverhältnis von Kunst und Politik, von Liebe, Macht und Tod geschrieben. Robin Detje hat sie eindrucksvoll übersetzt. In Sätze, voller Schönheit und Abgründe, in denen Zynismus, Lakonie und Poesie aufeinander fallen. Dafür erhält Robin Detje den Preis der Leipziger Buchmesse des Jahres 2014 in der Kategorie Übersetzung. Herzlichen Glückwunsch.”

Robin Detje, geboren 1964 in Lübeck, ist Autor, Übersetzer und Regisseur. Er war Feuilletonredakteur der Zeit und der Berliner Zeitung, anschließend Autor bei der SZ. Seit 2006 arbeitet er kontinuierlich als Übersetzer, unter anderem von Will Self und Denis Johnson. Er lebt in Berlin.

Die Nominierungen für den Preis der Leipziger Buchmesse

410 Titel von 136 Verlagen waren diesmal für den Preis der Leipziger Buchmesse eingereicht worden. Im Februar nominierte die siebenköpfige Jury unter der Leitung von Journalist und Literaturkritiker Hubert Winkels jeweils fünf Autoren beziehungsweise Übersetzer in den Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung.

Die Publikumsjury, die online voten durfte, lag auch diesmal voll daneben. Sie hatte in der Kategorie Belletristik Fabian Hischmanns Roman “Am Ende schmeißen wir mit Gold” (Berlin Verlag) favorisiert.

Der Preis der Leipziger Buchmesse ehrt seit 2005 herausragende deutschsprachige Neuerscheinungen und Übersetzungen. Er ist mit insgesamt 45.000 Euro dotiert und wird zu gleichen Teilen in den Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung verliehen. Der Freistaat Sachsen und die Stadt Leipzig unterstützen den Preis der Leipziger Buchmesse. Partner des Preises ist das Literarische Colloquium Berlin (LCB), Medienpartner sind die Magazine buchjournal und Cicero sowie Deutschlandradio Kultur. Die Preisverleihung fand am 13. März 2014, 16 Uhr in der Glashalle der Leipziger Messe statt.

Vorsitzender der Jury ist der Journalist und Literaturkritiker Hubert Winkels. Weiterhin gehören zur Jury des Preises der Leipziger Buchmesse: Lothar Müller, Feuilletonredakteur der Süddeutschen Zeitung; René Aguigah, Abteilungsleiter Kultur und Gesellschaft bei Deutschlandradio Kultur; Daniela Strigl, Literaturwissenschaftlerin an der Universität Wien, sowie Ursula März, Literaturkritikerin bei DIE ZEIT. Neu dabei sind in diesem Jahr Dirk Knipphals, Literaturredakteur der taz, und Sandra Kegel, Redakteurin im Ressort Literatur und Literarisches Leben der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

www.preis-der-leipziger-buchmesse.de

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